Brenda Joyce
Sie nur herein!«, rief die Frau, was darauf
schließen ließ, dass sie in der Tat diejenige gewesen war, die Francesca die
Nachricht überreicht hatte. Miss de Labouche wandte sich zu Joel um und rief
mit strenger Stimme: »Bleib sofort stehen, junger Mann!«
Joel stopfte seine mit Lumpen umwickelten
Hände in die Taschen seines großen, wollenen Mantels und zuckte mit den
Schultern. Miss de Labouche schloss die Tür hinter Francesca.
»Ich danke Gott, dass Sie gekommen sind, aber Sie hätten allein
kommen sollen!«
Es war unübersehbar, dass die Frau in Panik war; Francesca konnte
es an ihren Augen, ihrem Tonfall und ihrem Gesichtsausdruck ablesen.
»Am besten erzählen Sie alles ganz von vorn«, sagte sie mit
freundlicher Stimme.
»Dafür ist keine Zeit!«
Francesca knöpfte ihren pelzgefütterten Umhang auf. »Na schön.
Warum setzen wir uns nicht irgendwo hin und fangen einfach an?«
Georgette zögerte, blickte zu Joel hinüber und sagte dann: »Gehen
wir doch dort hinein.« Sie deutete auf die Tür am Ende des Flurs. »Aber der
Junge bleibt hier.« Sie warf Joel einen zornigen Blick zu. »Du rührst dich
nicht von der Stelle, Bürschchen! Haben wir uns verstanden?«
Joel schnitt eine Grimasse. »Ich hab schon 'nen Boss, und das ist
Miss Cahill.«
»Werd bloß nicht frech!«, rief Georgette.
Francesca legte eine Hand auf ihren Arm und lächelte sie beruhigend
an. »Wie ich sehe, sind Sie sehr aufgeregt. Keine Sorge, wir können uns unter
vier Augen unterhalten.« Sie blickte Joel an. »Joel, deine Aufgabe besteht
darin, mir zu helfen – wenn ich Hilfe benötige. Im Augenblick möchte ich dich
bitten, hier am Eingang stehen zu bleiben und auf mich zu warten, bis ich mich
wieder melde.«
Er blickte sie forschend an. Francesca begriff, dass er herauszufinden
versuchte, was ihre Worte wirklich zu bedeuten hatten – ganz so, als hätte sie
sie verschlüsselt.
»Bleib hier«, wiederholte sie und lächelte Georgette zu, die ihre
beringten Hände rang. Sie schien den Tränen nahe zu sein.
»Es ist alles in bester Ordnung«, sagte
Francesca und hoffte, dass es der Wahrheit entsprach. Anfangs schien es eine
wundervolle Idee gewesen zu sein, Joel zu ihrem Gehilfen zu machen, aber nun
war sich Francesca nicht mehr ganz sicher, ob sie ihm trauen konnte – würde er
wirklich immer ihre Anweisungen befolgen? Sie wollte ihren ersten Fall nicht
wegen ihm aufs Spiel setzen.
Georgette ging mit schnellem Schritt voraus den Flur entlang.
»Woher wussten Sie von mir, Miss de Labouche?«, fragte Francesca, die der Frau
gefolgt war.
Sie hatte die Hand bereits um den Knauf der
geschlossenen Tür gelegt und blickte über ihre Schulter zurück. »Sie haben mir
gestern vor der Tür von Tiffany's eine Ihrer Visitenkarten gegeben. Es war eine
ungewöhnliche Karte, und ich habe sie aufbewahrt. Aber ich hätte nie gedacht,
dass ich sie einmal benötigen würde, ganz gewiss nicht schon einen Tag
später!«
Francesca sah, dass die Frau weinte. »Es wird
schon alles wieder in Ordnung kommen«, sagte sie mit sanfter Stimme.
Georgette drehte sich um, öffnete die Tür
einen Spaltbreit und schlüpfte hinein. Ein ungutes Gefühl überkam Francesca,
und sie zögerte für einen Moment, ehe sie Georgette folgte, die die Tür sofort
hinter ihr schloss und den Schlüssel umdrehte.
Francesca achtete gar nicht darauf, denn ihre
Aufmerksamkeit wurde sofort von einem Mann in Anspruch genommen, der mitten im
Zimmer auf dem polierten Holzboden auf dem Bauch lag. Unter seinem Kopf hatte
sich eine Lache aus dunkelrotem Blut gebildet.
Francesca schluckte. »Ist er ...«
»Er ist tot«, sagte Georgette. »Und ich benötige Ihre Hilfe, um
die Leiche loszuwerden.«
Kapitel 3
FREITAG, 31. JANUAR 1902 – MITTERNACHT
Francesca schnappte nach Luft. Sie musste Georgette
de Labouche wohl missverstanden haben. »Wie bitte?«
»Wir müssen die Leiche loswerden! Dazu
benötige ich Ihre Hilfe. Und als Erstes müssen wir den Jungen wegschicken!«,
rief Georgette in einem Tonfall, als wäre Francesca ein Einfaltspinsel.
Francesca wollte ihren Ohren nicht trauen.
Dies war ihr erster offizieller Fall, und es war kein gewöhnlicher Fall,
sondern ein Mord – das schlimmste aller Verbrechen. Ein Mensch war ums Leben
gekommen, doch die fremde Frau bat sie nicht etwa darum, das Verbrechen
aufzuklären, sondern sie wollte es mit Francescas Hilfe vertuschen. Das Ganze
wäre wohl komisch gewesen, hätte nicht ein Mann ermordet zu ihren Füßen
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