Brenda Joyce
hatte
– ganz gleich, wie sehr sie auch vorgeben mochte, dass dies nicht der Fall war.
Dabei war es ihr selbst unerklärlich. Wie hatte das nur geschehen können?
Francesca hatte jene Arten von oberflächlichem Zeitvertreib stets gemieden, die
anderen jungen Frauen ihres Alters zu gefallen schienen. Stattdessen entdeckte
sie schon sehr früh die Literatur für sich – mit sechs Jahren begann sie zu
lesen –, und ihre Liebe zum geschriebenen Wort und zu allem, was damit zusammenhing,
hatten sie stets begleitet. Francesca Cahill war durch und durch ein
Blaustrumpf und ihre Einschreibung am Barnard College keine bloße Laune
gewesen. Das Wissen darum, wie ihre Mutter reagieren würde, sollte sie jemals
von Francescas Streben nach einer Hochschulbildung erfahren, machte das Studium
zu einem durchaus ernsten Unterfangen. Glücklicherweise waren ihre Eltern sehr
großzügig, was Francescas Ausgaben anging, und sie hinterfragten auch nicht ihr
plötzliches Bedürfnis, sich eine neue Garderobe zuzulegen. Außerdem hatte sie
sich von ihrer Schwester Geld für das Studium geliehen.
Doch der College-Abschluss sollte nur der Anfang sein. Francesca
war eine große Reformistin. Das lag in der Familie – ihr Vater, Andrew Cahill, hatte es durch seinen Fleiß
zum Millionär gebracht und engagierte sich für Dutzende von Wohltätigkeitsorganisationen.
Zudem unterstützte er politische Kandidaten wie Lowe – und das nicht nur in
New York, sondern im ganzen Staat und überall im Land. Francesca war stolz auf
ihren Verstand und ihre Leidenschaft für die Reformbewegung. Normalerweise
hatte sie keine Zeit für Partys oder Einkaufsbummel, und sie konnte einfach
nicht verstehen, warum die anderen jungen Frauen, die sie kannte, sich für
nichts anderes interessierten. Francesca gehörte fünf Gesellschaften an, die
sich allesamt dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und gegen die überhand nehmende
Armut in der Stadt verschrieben hatten. Außerdem hatte sie selbst eine
Gesellschaft gegründet: die Damengesellschaft zur Abschaffung der Mietshäuser.
Ursprünglich war es ihre Absicht gewesen, Artikel und Bücher über die
schlimmsten Seiten des Lebens in New York zu schreiben, um die feinen Damen und
Herren aufzuklären, die in den vornehmen Villenvierteln lebten. Doch dann
hatten sich Francescas Ambitionen ganz plötzlich und auf drastische Weise
verändert, denn zwei Wochen zuvor hatte sie ihre wahre Berufung entdeckt: die
Kriminalistik.
Damals war sie eigentlich nur durch Zufall
auf jene erste Nachricht des Entführers gestoßen, aber im Nachhinein war es ein
glücklicher Zufall gewesen. Denn von diesem Moment an hatte sie versucht, dem
neuen Commissioner bei der Aufklärung des scheußlichen Verbrechens zu helfen
und den entführten Jungen zu finden. Rick Bragg und sie hatten gemeinsam den
schlimmsten Gefahren getrotzt, während eine anonyme Nachricht nach der anderen
entdeckt wurde, die alle darauf hingedeutet hatten, dass der Junge tot war.
Doch am Ende hatten sie den kleinen Jonny Burton doch noch lebend gefunden und ihn
sicher in die Arme seiner Mutter zurückgebracht. Ohne Francesca hätte es Bragg
nicht geschafft, das hatte er ihr sogar selbst gesagt.
Bei diesem Gedanken musste Francesca unwillkürlich lächeln. Erneut
blickte sie zum Eingang hinüber, durch den weiterhin die Gäste eintraten. Ihr
Vater hatte ihr erzählt, dass auch Bragg zu diesem Fest eingeladen worden war.
Natürlich waren der Commissioner und sie nur
Freunde; sie hatten sich ja gerade erst kennen gelernt. Aber bestimmt würde es
schon bald ein weiteres Verbrechen geben, bei dessen Lösung er ihrer Hilfe
bedurfte. Wie könnte es in dieser Stadt der Schwindler und Gauner anders sein?
Am Tag zuvor hatte Francesca ihre neuen Visitenkarten abgeholt, die sie bei Tiffany's
bestellt hatte, und bereits damit begonnen, sie zu verteilen. Sie trugen den
Aufdruck:
Francesca Cahill
Kriminalistin aus Leidenschaft
810 Fifth Avenue, New York City.
Akzeptiere alle Fälle.
Kein Verbrechen zu geringfügig.
»Wo steckt nur dein Vater? Er wollte eigentlich bloß kurz in seinem
Club vorbeischauen, aber er ist spät dran«, ertönte plötzlich die Stimme ihrer
Mutter. Sie war an Francescas Seite zurückgekehrt und blickte sich
stirnrunzelnd um.
Francesca musste ihren Blick wohl oder übel vom Eingang lösen, da
sie nicht wollte, dass ihre Mutter noch misstrauischer wurde, als sie es
ohnehin schon war. In den vergangenen zwei Wochen hatte Julia bemerkt, dass
Francesca sich
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