Brenda Joyce
seufzte. »Mutter weiß es ebenfalls seit ein paar Jahren, und es
war wahrlich nicht leicht für sie. Aber Mary – nun ja, sie liebte Vater so
abgöttisch, dass wir es vor ihr verschwiegen haben. Ich glaube nicht, dass sie
bis zum heutigen Morgen etwas über diese Hure gewusst hat.«
Erneut dachte Francesca, dass Bill seinem
Vater dessen Affären wohl niemals vergeben hatte. Und was war mit der verletzten
und gekränkten Ehefrau? Doch Francesca glaubte, Henrietta als mögliche
Mörderin ausschließen zu können. Die Witwe schien – trotz all des Kummers, den
Randall ihr bereitet hatte – wirklich sehr traurig über seinen Tod zu sein.
Immerhin hatte sie auch bereits seit Jahren von Georgette gewusst, warum hätte
sie sich also jetzt erst rächen sollen? Dennoch wollte Francesca keine
vorschnellen Schlüsse ziehen.
»Das tut mir Leid. Mary muss zutiefst
erschüttert sein«, sagte sie.
»Das ist sie in der Tat. Ich
glaube nicht, dass sie schon wirklich begriffen hat, dass Vater ein Doppelleben
geführt hat.«
»Mary behauptet, dass Hart
Ihren Vater erpresst hat. Wussten Sie davon?«
Bill lachte ohne jede Heiterkeit. »Sie ist verrückt! Hart soll
Vater erpresst haben? Falls das der Fall gewesen sein sollte, so hat mir
niemand davon erzählt.«
Francesca
atmete erleichtert auf.
»Sie versuchen also den Hauptverdächtigen zu entlasten, Miss
Cahill?«
»Ist das
so offensichtlich?«
»Allerdings.«
»Ich bin mit seinem Bruder befreundet und außerdem der
Überzeugung, dass er gar nicht so schlecht ist, wie er die ganze Welt glauben
machen will.«
»Wenn das Ihre Meinung ist, möchte ich bezweifeln, dass Sie diesen
Fall lösen werden«, entgegnete Bill scharf.
Francesca starrte ihn erstaunt an.
Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. »Bitte verzeihen Sie, das
war sehr unhöflich von mir«, sagte er zerknirscht. »Obgleich ich das
Doppelleben meines Vaters nicht gutgeheißen habe, bin ich ebenso bestürzt über
seinen Tod wie jeder andere in diesem Haus«, erklärte er mit reuigem Blick.
Francesca lächelte höflich, fragte sich aber insgeheim, ob das
wirklich der Wahrheit entsprach.
Plötzlich betrat Mary das Zimmer. Sie war blass und wirkte
furchtbar angespannt, doch ihre Augen funkelten. »Bill, Hart hat Papa wirklich
erpresst«, sagte sie ohne Umschweife. Ganz offensichtlich hatte sie vor der Tür
gestanden und gelauscht. »Du weißt nicht, was hier alles passiert ist, während
du fort warst.« Sie warf Francesca einen wütenden Blick zu.
Bill trat auf sie zu. »Bitte geh wieder auf dein Zimmer und leg
dich hin, ja? Ich werde mich schon mit Miss Cahill befassen. Möchtest du ein
wenig Laudanum haben?«, fragte er in einem Tonfall, der freundlich und bestimmt
zugleich war.
Mary verzog das Gesicht. »Nein ... ja,
vielleicht doch. Ach, ich weiß nicht. Bitte glaub mir! Hart hat Papa gesagt, er
würde der ganzen Welt erzählen, dass er sein unehelicher Sohn ist und wie hoch
Papa verschuldet ist. Ich habe es mit angehört. Papa hatte Angst und war am
Boden zerstört, und Hart hat sich amüsiert.« Sie wandte sich Francesca zu. »Ich
hasse ihn! Er ist der Mörder, daran besteht kein Zweifel!«
»Ich kann verstehen, was Sie empfinden«, sagte Francesca leise. Es
sah gar nicht gut aus für Hart. Wenn man Joels Freundin Glauben schenken
konnte, ließ sich Harts Alibi nicht bestätigen, und nun bestand Mary auch noch
darauf, dass er seinen Vater erpresst hatte. In der Tat konnte sich Francesca
sehr gut vorstellen, dass Hart auf die von Mary beschriebene Weise mit Randall
gespielt hatte.
Dennoch hatte sie gelogen, als sie behauptete, am Morgen des
Mordtages eine Unterhaltung auf der Straße belauscht zu haben. Aber warum nur?
»Können Sie das?«, erwiderte Mary streitlustig. Sie schüttelte den
Kopf. Mit einem Mal liefen ihr die Tränen über die Wangen, und sie stürzte aus
dem Zimmer.
Bill eilte an Francesca vorbei, um seiner Schwester zu folgen.
Und plötzlich hatte Francesca den Eindruck, dass er ihr irgendwie bekannt
vorkam.
Die schmalen Schultern, das dunkle Haar, die kleinen, flinken
Schritte.
Francesca erstarrte, als ihr urplötzlich klar wurde, wen sie da
vor sich hatte.
An der Tür drehte sich Bill Randall noch einmal um. »Gibt es noch
etwas, das ich für Sie tun kann, Miss Cahill?«
Sie hielt unwillkürlich den Atem an. Vor ihr stand der Mann, der
sich wenige Stunden nach dem Mord heimlich in Georgette de Labouches Haus
geschlichen hatte.
Kapitel 13
SONNTAG, 2. FEBRUAR 1902 – 18
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