Brenda Joyce
gar
nicht, und sie blickte ihn forschend an. »Ich hoffe, er ist wohlauf«, sagte
sie.
Der Mann zögerte; offensichtlich rang er mit sich, ob er gegen die
guten Sitten seines Berufsstandes verstoßen sollte. »Er ist indisponiert,
Madam«, wiederholte er dann aber mit fester Stimme und hätte wohl gern die Tür
geschlossen, wartete jedoch darauf, dass sie sich zum Gehen wandte.
»Ist er krank?«, erkundigte sich Francesca und trat an dem Butler
vorbei in die riesige Eingangshalle mit den beiden Skulpturen und dem
schrecklich pietätlosen Gemälde eines Künstlers namens Caravaggio.
»Madam, seine Anweisungen waren überaus präzise. Er wünscht keine
Besucher zu empfangen.«
»Den Teufel wünsche ich!«
Francesca zuckte zusammen, fing sich aber schnell wieder. Hart
stand am gegenüberliegenden Ende der Halle und starrte sie mit einem schiefen
Grinsen an, das Francesca irgendwie gefährlich vorkam.
»Kommen Sie nur herein, Miss Cahill. Ach, und Alfred, hatte ich
nicht erwähnt, dass ich für die Cahill-Schwestern immer eine Ausnahme
mache?«
Alfred verbeugte sich. »Nein, das hatten Sie nicht, Sir.«
»Dann wissen Sie jetzt, dass die Damen unbeschränkten Zutritt zu
meinem Haus haben.« Hart grinste Francesca erneut an.
Sie blickte ihn mit großen Augen an. Er war
unrasiert und hielt eine dicke Zigarre in der Hand. Unter der lose zugebundenen
samtenen Hausjacke mit dem türkischen Muster trug er ein arg zerknittertes
Hemd. Das dichte, dunkle Haar fiel ihm in die Stirn. Seine Hose erweckte den
Eindruck, als habe er darin geschlafen. Trotz seiner leicht zerknitterten
Erscheinung fand Francesca ihn geradezu beunruhigend attraktiv. Doch ihr Instinkt
sagte ihr, dass irgendetwas nicht stimmte, und derselbe Instinkt riet ihr, mit
allergrößter Vorsicht vorzugehen.
»Nur hereinspaziert, Miss Cahill«, sagte Hart mit einem strahlenden
Lächeln.
»Vielen Dank«, erwiderte Francesca steif. Sie
reichte Alfred ihren Mantel, den Muff, die Handschuhe und den Hut und begann
den großen Raum zu durchqueren. Hart rührte sich nicht von der Stelle. Er
lehnte an dem Messinggeländer der breiten, geschwungenen Treppe am anderen Ende
der Eingangshalle und beobachtete Francesca, während sie auf ihn zuging.
Warum hatte sie bloß das Gefühl, als würde sie die Höhle des Löwen
betreten?
Er grinste aufs Neue. Im Unterschied zu Bragg hatte Hart nur ein
Grübchen, aber es saß an der gleichen Stelle. »Was für eine angenehme
Überraschung.«
Als sie vor ihn trat, stellte sie bestürzt fest, dass er nach Whiskey
roch. »Haben Sie etwa getrunken?«
»Aber gewiss.« Er nahm ihre Hand und hakte sie bei sich unter.
»Ich feiere, haben Sie das etwa schon vergessen?«
Hart zog Francesca dicht an sich heran. Er
war ein muskulöser Mann, von etwas kräftigerer Gestalt als Bragg, obgleich die
Brüder beinahe gleich groß und gleich schwer waren. Francesca versuchte
instinktiv, ein wenig von ihm abzurücken, doch er hielt sie fest, während er
sie in die Tiefen des Hauses hineinführte.
»Sie sind betrunken«, sagte sie mit unsicherer Stimme. Plötzlich
kam ihr der Gedanke, dass sich die Brüder doch ähnlicher waren, als sie zugeben
wollten. Das letzte Mal, als sie sich in der Gegenwart eines betrunkenen Mannes
befunden hatte, war es Bragg gewesen, und es hatte zur Folge gehabt, dass sie
sich geküsst hatten – auf eine höchst gewagte und unvergessliche Art und
Weise.
»Ja, ich gestehe, ich habe ein wenig zu tief ins Glas geschaut«,
erwiderte Hart fröhlich. »Und jetzt tut mir nichts mehr weh.«
Er schenkte ihr ein warmes Lächeln, und ihr Herz vollführte
unwillkürlich einen Hüpfer. In diesem Moment begriff sie, warum er jede Frau
bekam, die er haben wollte; sein Charme übte eine geradezu hypnotisierende
Wirkung aus.
»Sie sollten wohl besser nichts mehr trinken«, flüsterte sie. »Und
würden Sie bitte meinen Arm loslassen?«
»Aber warum denn?«, fragte er und führte sie in eine große,
atemberaubende Bibliothek. Nicht nur Bücher und Kunstwerke – sowohl Gemälde
als auch Skulpturen – füllten den Raum, sondern auch ein halbes Dutzend
Sitzmöglichkeiten. In der hintersten Ecke stand ein großer Schreibtisch, an dem
Hart wohl gemeinhin arbeitete.
Die Kunstwerke bestanden aus Landschaften, Porträts, Akten und
Darstellungen aus Mythologie und Religion. Es gab keine vorherrschende
Stilrichtung, Impressionismus und Realismus waren gleichsam vertreten.
»Weil Sie mir zu nahe treten«, erwiderte sie
scharf.
Er lachte
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