Brennende Fesseln
eine mit Dinosauriern bedruckte Windel. Seine Arme und Beine sind stämmig, seine Haare rotgelockt, und er hat eine richtige Stupsnase. Über seinen Nasenrücken sind helle Sommersprossen verteilt.
»Bestimmt wünschst du dir auch bald eins«, flüstert Maisie. Der Kleine saugt mit einem leisen, schmatzenden Geräusch an seinem Daumen. Seit Maisie ein Baby hat, versucht sie mich zu überreden, mir auch eines zuzulegen. Immer wieder beteuert sie, daß das Leben als alleinerziehende Mutter gar nicht so schwierig sei.
»Das glaube ich nicht«, antworte ich, streiche dem Jungen das Haar aus der Stirn und berühre seine Wangen. Er hat die weiche, pralle Haut, die nur Babys haben. Als Franny und Billy klein waren und ich sie so sehr liebte, war ich davon überzeugt, daß ich eines Tage auch Kinder haben würde. Aber wie man sieht, ist daraus nichts geworden. Während ich auf die Dreißig und dann auf die Fünfunddreißig zuging, erlebte ich mit, wie fast alle meine Freundinnen nach und nach heirateten und Kinder bekamen. Aber ich hatte meinen Beruf – war das nicht viel besser? Männer lassen sich scheiden, Kinder werden groß und gehen aus dem Haus. Alles, was einem am Ende bleibt, ist der Beruf. Jedenfalls redete ich das mir und allen ein, die danach fragten, und es klang fast überzeugend.
Wir verlassen das Kinderzimmer, und Maisie zeigt mir die Räume ihrer Mieter. Sie klopft an ihre Türen und fragt, ob wir
uns die Räume ansehen dürfen, und die Mieter scheinen nichts gegen die Störung zu haben. Voller Begeisterung über ihr altes Haus, führt sie mich durch jeden einzelnen Raum.
»Oh, ich weiß, daß noch viel gemacht werden muß«, sagt sie, als wir schließlich ins vordere Wohnzimmer zurückkehren. »Aber denk bloß daran, was es in ein paar Jahren wert sein wird, wenn ich es hergerichtet habe.«
Ich lächle. »Ich finde es großartig«, sage ich und meine es ernst. Das Haus ist in einem fürchterlichen Zustand, aber ich beneide Maisie um ihr leidenschaftliches Engagement, ihre Entschlossenheit, aus einer Ruine etwas Wertvolles zu machen. Seit Frannys Tod habe ich mich kaum mehr für etwas engagiert, außer für die Entlarvung ihres Mörders. Ich setze mich auf das Sofa, ein grellrotes Möbelstück mit quastenverziertem Samtbezug. Maisie, die neben mir steht, ist plötzlich ganz still. Gelegentlich hört man die Mieter oben leise rumoren. Ich falte die Hände im Schoß und starre sie stirnrunzelnd an.
»Maisie«, beginne ich langsam, zögere dann aber. Ich setze von neuem an. »Es tut mir leid«, sage ich schließlich.
»Was?«
»Daß ich dich nie zurückgerufen habe. Daß ich einfach verschwunden bin.«
Maisie macht eine wegwerfende Handbewegung, als wolle sie meine Entschuldigung wegwischen. »Vergiß es«, sagt sie und setzt sich neben mich. »Aber wann fängst du wieder an zu arbeiten?«
»Bald«, antworte ich. »Bald.«
Maisie zieht ihre schrägen Augenbrauen hoch. »Das sagst du schon seit Monaten. Glaubst du nicht, daß es langsam an der Zeit ist?«
»Nein. Noch nicht. Ich bin immer noch …« Ich halte inne und schüttele den Kopf. Ich kann ihr nicht von M. erzählen. Ich kann ihr nicht von Frannys Beziehung zu ihm erzählen und
erst recht nicht von meiner. »Ich brauche Zeit«, sage ich. »Ich versuche immer noch, einen Sinn in dem Ganzen zu finden.«
»Welchen Sinn? Frannys Tod hat keinen Sinn, Nora. Aber sie ist nun mal tot, seit über einem Jahr. Es wird Zeit, daß du wieder dein eigenes Leben lebst. Du brauchst Hilfe. Schau dich doch an. Du siehst aus, als hättest du seit Wochen nicht geschlafen. Geschminkt bist du auch nicht, und dein Haar sieht schrecklich aus. Und erst deine Klamotten: zerrissene Jeans und ein altes T-Shirt. So bist du früher nie rumgelaufen. Man könnte meinen, du kämst geradewegs aus der Hölle.«
Ich blicke auf mein T-Shirt hinunter. Es hat einen Milchfleck, weil ich heute morgen meine Cornflakes verschüttet habe. »Es gibt viele Wege in die Hölle«, sage ich leise und muß an den schwarzen Raum in M.s Haus denken, an das Ledergeschirr und die stählerne Hebevorrichtung. »Die Frage ist bloß, wie man wieder herauskommt.«
24
»Was ist mit deiner Nachmittagsvorlesung?« frage ich M. Mir ist nicht ganz klar, warum ich hier bin, und ich höre mich ein wenig mürrisch an, weil ich zuwenig geschlafen habe. Er hat mich von der Uni aus angerufen und mich aufgefordert, nachmittags zu ihm zu kommen. Durch das Küchenfenster fallen die Strahlen der
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