Brennende Fesseln
Namen. Die anderen haben keine Ahnung, wovon sie reden. Sie wissen nicht, daß es kaum etwas gibt, das ihr mehr angst macht als das Meer. Nicht einmal Nora, die es wissen sollte, weil sie mit dem Mädchen lebt, sie jeden Tag sieht und die einzige ist, der das Mädchen überhaupt noch am Herzen liegt – nicht einmal Nora weiß, warum sie ins Meer gegangen ist.
Jetzt sitzt das Mädchen in ihrem Zimmer auf dem Bett, und Nora sitzt daneben.
»Du hast so schönes Haar«, sagt Nora, während sie das Haar des Mädchens mit ihrer Lieblingsbürste bearbeitet, der mit dem Perlmuttgriff, die einmal ihrer Mutter gehört hat. »Du solltest es wachsen lassen.«
Das Mädchen findet nicht, daß ihr Haar hübsch ist – jedenfalls nicht so hübsch wie das von Nora. Noras Haar ist glänzend schwarz und ganz glatt, sehr schick, findet das Mädchen, ganz anders als ihr eigenes, das matt und braun ist und ihr kaum bis an die Schultern reicht. Früher war es noch viel kürzer, stoppelig, kaum zwei Zentimeter lang, aber seit dem Tag, an dem ihre Eltern starben, hat sie es nicht mehr geschnitten.
»Ich lasse dich nur ungern allein«, sagt Nora. Es ist Samstag früh, und sie muß arbeiten – wie fast alle Samstage. Und Sonntage.
»Schon gut«, sagt das Mädchen. »Außerdem bin ich nicht allein. Ich werde in die Bibliothek gehen.«
Das Mädchen schließt die Augen und spürt die Bürste durch ihr Haar gleiten, langsam und sanft, immer wieder. Das erinnert sie an die Zeit, als ihr Haar noch lang und lockig war, damals, vor mehr als zwei Jahren, als Billy noch lebte und ihre Mutter es jeden Abend bürstete. Aber nachdem ihr Bruder tot
war, hörte das Bürsten auf, und das Mädchen sah keinen Sinn mehr darin, ihr Haar lang zu tragen, deswegen schnitt sie es ab, Zentimeter um Zentimeter, bis nichts mehr davon übrig war.
»Als du klein warst, habe ich das auch immer gemacht«, sagt Nora, während sie fortfährt, die Bürste durch ihr Haar zu ziehen. »Es war so seidig und weich – ich fand es wundervoll, dein Haar zu bürsten.« Dann fügt sie hinzu: »Das finde ich immer noch. Ich habe es bloß schon lange nicht mehr gemacht.« Sie schweigen beide.
Nora hört auf zu bürsten, schlingt ihre Arme um das Mädchen und lehnt sich an sie. Ihr Parfum erfüllt die Luft mit einem leichten, blumigen Duft. »Heute abend machen wir was ganz Besonderes«, sagt sie und umarmt ihre Schwester, wobei sie ihren Kopf an den des Mädchens drückt. »Wir gehen zum Essen und hinterher vielleicht ins Kino.«
»In Ordnung«, sagt das Mädchen, aber sie weiß, daß etwas dazwischenkommen wird und sie überhaupt nichts Besonderes unternehmen werden. Das Mädchen ist deswegen nicht böse; bestimmt ist das alles nicht leicht für Nora – Nora, die so viele Stunden arbeitet und einen sehr anstrengenden Beruf hat, sich aber trotzdem bemüht, Zeit für sie zu finden. Nora wird es versuchen, das Mädchen weiß, daß sie es versuchen wird; troztdem wird das Mädchen heute abend allein zu Hause sitzen, allein mit den Erinnerungen.
Nora drückt das Mädchen an sich. »Ich weiß, daß ich nicht viel Zeit für dich habe«, sagt sie. »Ich wünschte, es wäre anders, aber ich muß nun mal arbeiten.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagt das Mädchen und beschließt, nicht in die Bibliothek zu gehen.
Nora steht auf und geht zur Tür. Sie zögert einen Augenblick, die Hand am Türrahmen. Sie trägt ein schwarzes Kostüm und eine rote Bluse, bereit, zur Arbeit aufzubrechen. »Ich bin wirklich stolz auf dich«, sagt sie. »Es war ein so
schweres Jahr für dich, aber du hast dich tapfer geschlagen. In der Schule hat du nur Einsen, und zu Hause hilfst du mir beim Kochen und Saubermachen. Manchmal benimmst du dich so erwachsen, daß ich ganz vergesse, daß du noch ein Kind bist.« Lächelnd geht sie aus dem Zimmer.
Das Mädchen wartet, bis Nora die Wohnung verlassen hat. Dann, nachdem sie die Tür ins Schloß fallen gehört hat, steht sie auf. Sie zieht sich aus, schlüpft in einen Badeanzug und betrachtet sich im Spiegel. Sie hat nicht mehr das Gefühl, in diesen Körper zu gehören. Sie steht irgendwie neben sich, und jedesmal, wenn sie in den Spiegel sieht, starrt ihr ein seltsames Wesen entgegen, eine Fremde, die sie nicht erkennt. Früher war sie dünn, aber jetzt tauchen an ihrem Bauch und ihren Oberschenkeln diese überflüssigen Fettschichten auf. Ihr roter Badeanzug mit dem diagonal verlaufenden Regenbogenstreifen schmiegt sich eng an ihren runden Körper.
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