Brennende Fesseln
Ihre Beine sind stämmig, ihre Haut ist bleich. Dies ist kein Körper, in dem sie sich wohl fühlt, kein Körper, den sie kennt.
Sie zieht sich an – den roten Badeanzug behält sie an – und verläßt die Wohnung. Sofort schlägt ihr kalte Luft entgegen, und sie macht den Reißverschluß ihrer blauen Jeans zu. Es ist Herbst, auf den Gehsteigen und in den Rinnsteinen liegt braunes Laub.Während sie die Straße hinuntereilt, hört sie ein Nachbarkind rufen, daß sie stehenbleiben soll. Aber sie kann nicht stehenbleiben. Sie muß ans Meer. Sie geht an mehreren Häuserblocks vorbei, bis sie die Einfahrt zum Freeway erreicht. Dort stellt sie sich hin und hält den Daumen hoch. Es ist ein langer Weg bis zum Meer. Sie muß immer früh am Morgen aufbrechen, um so rechtzeitig zurück zu sein, daß Nora ihre Abwesenheit nicht bemerkt.
An diesem Tag braucht sie vier Stunden, bis sie endlich am Meer ist, und sie muß siebenmal umsteigen – erst nimmt eine Frau mit einem Lieferwagen sie mit, dann eine Familie mit einem Kombi, dann ein verbeulter Wagen voller Teenager, und
den Rest des Weges fährt sie mit vier Lastwagenfahrern, von denen drei zu ihr sagen, sie solle nicht per Anhalter fahren, weil einem jungen Mädchen wie ihr leicht etwas passieren könne. Ihr letzter Chauffeur, ein alter Mann, läßt sie in einer kleinen Küstenstadt – sie weiß den Namen nicht mehr – an einer schmalen Teerstraße aussteigen.
Schnell überquert sie die Straße und nimmt eine Abkürzung über ein holperiges Feld, weil sie weiß, daß ihr nicht viel Zeit bleibt, bis sie umkehren muß. Allmählich geht das Gras in Sand über. Am Himmel gleiten Wasservögel landeinwärts, um dann in einem sanften Bogen westwärts zu fliegen, zurück zum Meer. Sie läuft an einer Reihe von heruntergekommenen Betonhäusern entlang und steuert aufs Meer zu. Ihr Ziel ist eine Bucht hinter einem Felsen, wo sie niemand sehen kann. Sie hat gelernt, vorsichtig zu sein: Ihre Rendezvous mit dem Meer sind etwas sehr Privates, Intimes. Sie teilt sie sich gut ein, hält sich fern, so lange sie kann, und niemals geht sie ins Wasser, wenn andere Leute in Sichtweite sind.
Je näher sie dem Meer kommt, desto schneller werden ihre Schritte. Auch ihr Herz schlägt plötzlich schneller. Die Geräusche des Meeres rufen sie, ziehen sie an, bestimmen ihre Bewegungen, wie der Mond den Rhythmus der Gezeiten bestimmt. Sie geht immer schneller. Bald steht sie auf dem Felsen und blickt aufs Meer hinunter. Eine salzige Brise läßt ihr kurzes braunes Haar fliegen. Sie zuckt zusammen, als sie sieht, wie die Wellen zum Leben erwachen, sich langsam aufbauen und heranrollen, um schließlich mit schäumender Wucht gegen das Ufer zu donnern. Es ist ein ewiges Auf und Ab wie bei einer Achterbahnfahrt, und die Wellen wirken so hoch und bedrohlich, daß es dem Mädchen kalt über den Rücken läuft. Mit klopfendem Herzen folgt sie einem schmalen Pfad, der sich zwischen den Felsen zum Strand hinunterschlängelt.
Als sie den Sand erreicht, zieht sie ihre blaue Jacke aus und streift Schuhe und Socken ab. Es ist kühl, und der Himmel hat
eine düstere metallgraue Farbe. Außer ihr ist kein Mensch am Strand. Der feuchte, grobkörnige Sand ist mit Häufchen glänzenden Seetangs übersät, und wie immer, wenn ein Sturm bevorsteht, liegt ein feuchter, brackiger Geruch in der Luft. Schnell zieht sie Jeans und Sweatshirt aus. Nur mehr mit ihrem roten Badeanzug bekleidet, fühlt sie sich entblößt und verletzlich. Der Wind peitscht ihr das Haar ins Gesicht, und sie bekommt eine Gänsehaut.
Sie gräbt ihre Zehen in den Sand. In der Schule hat sie gelernt, daß man Veränderungen nicht immer sehen kann. Jahr für Jahr wäscht das Wasser über die Felsen, und irgendwann, auch wenn niemand sieht, wie es passiert, werden die Felsen zu Kieseln geschliffen, und dann zu Sand. Seufzend stemmt sie die Fersen in den Sand. Mit aufgerissenen Augen starrt sie weit, weit hinaus, dahin, wo der Ozean glatt, grau und ruhig ist. Die Unendlichkeit des Meeres macht ihr angst, aber gleichzeitig sehnt sie sich nach seiner Ruhe. Sie möchte dort draußen sein, weit draußen, wo sie sich ungestört treiben lassen kann. Aber das Mädchen sehnt sich auch nach der Kraft des Meeres, seiner Macht, Felsen zu Sand zu zerreiben – etwas Großes, Hartes und Überwältigendes in nichts zu verwandeln.
Als sie schließlich ins Wasser geht, ringt sie nach Luft, weil es so kalt und rauh ist, daß es in die Haut schneidet.
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