Brennende Fesseln
knabberte, kam sie zu dem Schluß, daß sie sich das alles nur einbildete und Probleme sah, wo gar keine existierten. Es war ja nicht so, daß sie gleich ins Bett sprangen, sobald sie bei ihm eintraf. Sie redeten sehr wohl miteinander, eine ganze Menge sogar, und er hatte schon mehrmals für sie gekocht. Sie sahen zusammen fern, und sie blieb immer über Nacht, wenn sie ihn besuchte. Michael war lieb und aufmerksam, wenn sie zusammen waren. Bloß, weil er sich nicht mehr am Putah Creek mit ihr traf und nie mit ihr ausging – sie sollte es ihm eigentlich nicht verübeln, daß er so lange arbeitete. Sie beschloß, ihn in seinem Uni-Büro anzurufen und zu fragen, ob sie ihn am Abend besuchen könne. Er nahm schon beim ersten Klingeln ab.
»Ja«, meldete er sich in scharfem Ton. Er klang verärgert.
Franny wünschte, sie hätte ihn nicht angerufen. »Ich bin’s«, sagte sie. »Habe ich einen schlechten Zeitpunkt erwischt?«
»Ehrlich gesagt, ja. Ich komme zu spät in mein Seminar.«
»Tut mir leid. Ich rufe dich später noch mal an.«
Er seufzte ungeduldig. »Franny«, sagte er, riß sich dann aber am Riemen. Er seufzte noch einmal und schwieg einen Moment. Dann nahm er einen zweiten Anlauf. Diesmal klang seine Stimme nicht ganz so barsch. »Du hast mich wirklich in einem ungünstigen Moment erwischt«, sagte er. »Worum geht’s denn?«
»Ich dachte, wir könnten vielleicht den Abend zusammen
verbringen. Eventuell irgendwo essen gehen.« Sie hörte, wie er mit den Fingern auf den Schreibtisch trommelte.
»Ich muß lange arbeiten«, sagte er. Dann folgte eine kurze Pause. Das Trommeln hörte auf. »Komm um neun zu mir. Und noch was, Franny.«
»Ja?«
»Zieh heute abend deine Krankenhaussachen an. Aber nicht die Hose. Eine richtige Schwesternuniform. Weißer Kittel, weiße Schuhe, weiße Strümpfe, Haube, Stethoskop, die komplette Ausrüstung. Ich habe eine Überraschung für dich.« Nach diesen Worten legte er abrupt auf.
Franny legte ebenfalls auf und lächelte. Michael hielt ständig neue Überraschungen für sie bereit. Der letzte Monat hatte ihr in so mancher Hinsicht die Augen geöffnet. Sie wünschte, sie hätte eine gute Freundin, der sie das alles anvertrauen könnte. Der Mensch, der ihr am nächsten stand, war Mrs. Deever, und mit ihr über Sex zu reden, konnte sie sich nicht vorstellen. Sie dachte an ihre Schwester: Nora kannte sich mit diesen Dingen bestimmt aus. Sie nahm erneut den Hörer ab und wählte die Nummer des Sacramento Bee. Dann legte sie auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Sie war zu dem Schluß gekommen, daß sie doch nicht mit Nora über dieses Thema reden wollte. Das war alles viel zu persönlich.
Als sie später im Bett lagen, kuschelte Franny sich eng an Michael. Sie war hellwach, aber er atmete tief. Er lag auf dem Rücken und schien schon fast zu schlafen. Sie hatten an diesem Abend eine Variante seiner Krankenschwester-Arzt-Phantasie durchgespielt. Schauplatz war der Eßzimmertisch, der als Behandlungstisch fungierte. Er hatte ihr gesagt, daß sie sich, wenn sie ihren Job behalten wolle, nicht nur um die Bedürfnisse seiner Patienten, sondern auch um die seinen kümmern müsse. Er trug einen weißen Arztkittel und Gummihandschuhe, und sie mußte ihn Herr Doktor nennen. Er hatte
ein rotes Samttuch auseinandergeschlagen, das eine Sammlung von Instrumenten aus schimmerndem Edelstahl enthielt. Das war für Franny völlig neu gewesen. Bevor sie Michael kennenlernte, hatte sie nicht gewußt, daß es Leute gab, die ihre Phantasien tatsächlich auslebten. Er hatte sie zum Tisch geführt und mit seinen Instrumenten untersucht. Während er vorsichtig an ihr herumstocherte, hatte er sie immer wieder zum Mitspielen animiert. Hinterher bekam sie ihre Belohnung: Er berührte sie so, wie sie es mochte, und spielte mit ihr, bis sie kam. Er forderte sie auf, die Augen zu schließen und seiner Phantasie nachzugeben, diese Phantasie zu ihrer eigenen zu machen; und die ganze Zeit über sprach er in einem energischen, überzeugenden Ton mit ihr, drängte sie weiter, zog sie mit seinen Worten fort, und selbst in dem Augenblick, als sie kam, hatte sie das ungute Gefühl, daß er sie nur vorbereitete, auf etwas anderes einstimmte.
Sie lauschte Michaels tiefen, ruhigen Atemzügen, beobachtete, wie seine Brust sich hob und senkte. Durch die hauchdünnen Vorhänge fiel Mondlicht in den Raum. Ein Baum, der sich im Wind wiegte und seine Äste emporreckte wie ein Bettler seine Arme, warf
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