Brennende Fesseln
Pummel.
»Hi«, sagte Nora. »Was hat dich aufgehalten? Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.« Sie hatte ein sympathisches Gesicht, das fast immer aussah, als würde sie gerade jemanden necken. Ihre Mundwinkel wirkten stets ein wenig hochgezogen, als wollte sie jeden Moment lächeln.
Franny zog den Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne ihres Stuhls. Während sie sich setzte, sagte sie: »Tut mir leid. Wir hatten einen Notfall.«
»Oh?« Nora zog fragend die Augenbrauen hoch.
»Ein Patient hatte zu niedrigen Blutdruck und wurde ohnmächtig. Ich mußte die Dialyse abbrechen.« Sie legte die gefaltete Serviette auf ihren Schoß. »Meiner Meinung nach hätte der Techniker besser aufpassen müssen. Es war das erste Mal, daß mir ein Patient ohnmächtig geworden ist. Ich habe ihm sofort eine Kochsalzlösung-Infusion gegeben und dann den Arzt gerufen.« Sie merkte, daß Nora ihr nur mit halbem Ohr zuhörte. Obwohl sie zustimmend nickte, wirkte ihr Blick abwesend. Franny brachte die Geschichte schnell zu Ende. »Jedenfalls haben wir ihn ins Krankenhaus geschickt.«
Nora nahm einen Schluck von ihrem Wein. Ihre Augen waren dunkelblau wie zwei geschmolzene Saphire, die genau zur Farbe ihres Kleides paßten. Die Farbe war nicht echt. Franny
wußte, daß ihre Schwester farbige Kontaktlinsen trug; in Wirklichkeit hatten Noras Augen einen hellen, rauchigen Blauton. Aber die dunkle Farbe stand ihr. Der Kellner kam an ihren Tisch, um Frannys Bestellung aufzunehmen, und sie entschied sich für eine Tasse heißen Kräutertee. Nachdem er den Tee gebracht hatte, bestellten sie beide ihren Salat.
»Wie findest du meine neuen Ohrringe?« fragte Nora. Sie lehnte sich vor und strich ihr Haar nach hinten, so daß Franny die Ohrringe sehen konnte, zwei silberne Kegel, in die je ein tränenförmiges Jadestück eingelegt war.
»Sehr schön«, antwortete Franny, während sie den Teebeutel in die Tasse mit heißem Wasser hängte. Der Kellner brachte einen Korb mit verschiedenen Brotsorten. Franny griff nach einem Stück Sauerteigbrot und bestrich es mit Butter.
»Ich war letzten Donnerstag in Berkeley, um für einen Artikel zu recherchieren. Über einen Zoologen, der die Mechanik der Fortbewegung untersucht. Er arbeitet mit Insekten – Tausendfüßlern, Spinnen, Küchenschaben. Wirklich interessant. Der Artikel erscheint nächste Woche. Auf dem Heimweg, ich wollte gerade auf den Freeway einbiegen, habe ich einen wirklich schicken kleinen Schmuckladen entdeckt. Sie haben ganz tolle Sachen. Bei diesen Ohrringen konnte ich einfach nicht widerstehen.«
Nora nahm ein Stück trockenes Fladenbrot aus dem Korb und begann daran zu nagen, ohne es vorher zu buttern. Sie sah sich im Raum um, beobachtete die anderen Gäste, die Kellner und Bedienungen, den Mann, der in der Ecke Klavier spielte. Nora war schon immer eine besonders aufmerksame Beobachterin gewesen. Wahrscheinlich hatte das mit ihrem Beruf zu tun. Ihre Augen ruhten nie; unauffällig ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Selbst dann, wenn sie mit jemandem sprach, registrierte sie alles, was um sie herum vorging. Manche Leute fanden das unhöflich – sie glaubten, daß sie nicht aufmerksam genug zuhörte –, aber Franny wußte, daß
Nora nie ein Wort einer Unterhaltung entging. Ganz im Gegenteil: Sie erinnerte sich an Dinge, an die ihr Gesprächspartner längst nicht mehr dachte.
»Küchenschaben?« wiederholte Franny mit einem skeptischen Blick.
»Genau«, antwortete Nora und lächelte den Kellner an, der gerade ihre Salate brachte. Sie bestellte ein zweites Glas Wein, brach ihre Stäbchen auseinander und wandte sich wieder Franny zu. »Er setzt sie in winzige Laufräder und filmt ihre Bewegungen. Dann sieht er sich die Aufnahmen in Zeitlupe an. Er hat die These aufgestellt, daß alle Tiere, einschließlich der Insekten, einen ähnlichen Gang haben, daß sie sich alle auf dieselbe federnde Weise fortbewegen, weil sich die Beinmuskeln bei allen auf dieselbe Art bewegen.«
Sie sprach weiter, sprach über die Energie, die die Insekten verbrauchten, wenn sie sich bewegten, und über ihren Kampf gegen die Schwerkraft. Ihre Stäbchen schwingend, erzählte sie Franny, welche Bedeutung das für den Bereich der Humanphysiologie, der Robotertechnik und der Medizin haben könnte. Franny war stolz auf Nora, auch wenn sie nicht alles verstand, was sie sagte. Manchmal wünschte sie, mehr wie Nora zu sein, beneidete sie sogar, aber dann rief sie sich ins
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