Brennende Fesseln
geschämt, Nora. Ich war nicht gerade stolz auf die Tatsache, daß ich mit ihr geschlafen hatte, ohne ihre Zuneigung zu erwidern.«
Die Qual in Ians Gesicht läßt meine Wut etwas verrauchen. Nur zu gern würde ich glauben, was er mir gerade erzählt hat, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Bei ihm nicht und bei M. auch nicht.
»Was hast du an dem Tag gemacht, als sie ermordet wurde?« frage ich ihn schließlich.
Ian legt den Kopf leicht schräg, sagt aber zunächst nichts. Dann, als ihm langsam dämmert, was ich denke, scheint sein Gesicht in sich zusammenzuschrumpeln. »Wie kannst du mich das fragen?« antwortet er verletzt. »Du glaubst, daß ich etwas mit ihrem Tod zu tun hatte?«
Ich zucke mit den Achseln. Als er merkt, daß ich auf eine Antwort warte, sagt er: »Ich habe sie nur ein einziges Mal getroffen, sechs Monate vor ihrem Tod. Warum hätte ich sie töten sollen? Wie kannst du so etwas nur fragen?«
Wie konnte ich? Es klingt tatsächlich lächerlich. Er hatte kein Motiv, und er hatte sie schon sechs Monate nicht mehr gesehen. Ich fahre mir durchs Haar und versuche, wieder ein Gefühl für die Realität zu bekommen. Ian des Mordes zu verdächtigen ist so weit hergeholt, daß es fast schon an Wahnsinn grenzt. Das ist M.s Werk, denke ich. Er pflanzt mir solche Wahnideen ein, um mich noch mehr zu verwirren.
Ian macht einen Schritt auf mich zu und sagt: »Du kennst mich doch, Nora. Du kennst mich doch. Ich wäre nie imstande gewesen, sie zu töten.«
Mir wird klar, daß er recht hat. In meinem Herzen weiß ich, daß Ian kein Mörder ist. Aber der Samen des Verdachts ist noch da, und ich habe meine Zweifel. Vielleicht ist es auch bloß Verwirrung. Ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll.
»Du hättest mir sagen sollen, daß du Franny gekannt hast«, erkläre ich. »Was soll ich denken, wenn du mir so etwas verheimlichst?«
Er nimmt meine Hand und hält sie fest. »Du sollst denken, daß ich auch nur ein Mensch bin, daß ich einen Fehler gemacht habe und daß ich kein Mörder bin.«
Damit scheint alles gesagt zu sein. Ich wünschte, ich könnte die Arme um ihn legen, ihn an mich drücken und wissen lassen, daß ich mich getäuscht habe, daß ich weiß, daß er eines Mordes gar nicht fähig ist. Aber mein Körper gehorcht mir
nicht. Ich mache keine Anstalten, ihn zu umarmen. Ich sage nichts, was ihm zeigen könnte, daß ich ihm vertraue. Meine Hand hängt schlaff in seiner, bis ich sie ihm schließlich entziehe.
»Ian, ich möchte heute abend lieber allein sein.«
Er setzt zu einer Entgegnung an, überlegt es sich aber anders. »Ruf mich an, wenn du mich wiedersehen möchtest«, sagt er resigniert. Er küßt mich leicht auf die Wange, drückt seine Lippen nur ganz sanft auf meine Haut. Dann geht er. Während ich mich zum Schlafengehen fertig mache, frage ich mich, wann ich ihn wohl wiedersehen werde.
34
Ann Marie, meine Nachbarin von gegenüber, ist wieder in ihrem Garten beschäftigt. Sie ist ein winziges Persönchen, und sie trägt einen Schlapphut aus Stroh, ein ausgebleichtes Sommerkleid und Gartenhandschuhe, die so riesig sind, daß Ann Marie im Vergleich noch winziger und zierlicher wirkt. Ich gehe zu ihr hinüber, und wir unterhalten uns ein paar Minuten. Es kommt mir so vor, als wäre sie ständig im Garten zugange, aber ich weiß, daß das nicht stimmt. Sie arbeitet in Sacramento als Mathematiklehrerin und ist den Großteil des Tages nicht da. Die Tatsache, daß ich sie immer im Garten sehe, sagt mehr über meine Isolation aus als über ihren Eifer bei der Gartenarbeit. Würde ich mehr Zeit im Freien verbringen, würde ich sie auch bei anderen Tätigkeiten sehen. Im Moment habe ich kaum Kontakt zu meinen Nachbarn. Obwohl ich nun schon ein Jahr in diesem Teil von Davis lebe, fühle ich mich hier nicht zu Hause. Ann Marie besucht wie ich den hiesigen Fitneßclub, und wir kennen uns aus der Jazzgymnastik.
Im Moment kriecht sie auf allen vieren durch ihren Garten und stochert mit einem Pflanzenheber in der Erde herum.
»Was pflanzt du denn da?« frage ich.
»Gänseblümchen«, antwortet sie und hebt ein Polster Blumen aus der Erde. »Eigentlich pflanze ich sie gar nicht. Ich setze sie bloß auseinander, damit sie nächstes Jahr besser blühen – ich schaffe ihnen ein bißchen mehr Platz zum Wachsen.« Ihre braunen Beine ragen unter dem Kleid hervor. Ich sehe ihr zu, wie sie eine weitere Reihe Gänseblümchen ausdünnt. Als sie fertig ist, lehnt sie sich zurück und betrachtet ihr
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