Brennende Fesseln
sollte.«
Ich stehe immer noch hinter dem Tisch, unfähig, ein Wort zu sagen. Ian hat Franny gekannt. Ich habe seine Worte gehört und den Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen, aber ich hatte trotzdem damit gerechnet, daß er es abstreiten würde. Ich hatte gehofft, daß er es abstreiten würde. Ich möchte nicht glauben, daß M. die Wahrheit gesagt hat. Aber es ist so. Er hat nicht gelogen.
»Wie hast du es herausgefunden?« fragt Ian.
Mein Lachen klingt rauh und bitter. Ian kennt M. nur als Philip Ellis, und er hat noch immer keine Ahnung, daß ich mit ihm ins Bett gehe. »Das Tagebuch«, sage ich. »Es steht in ihrem Tagebuch. Sie hat erwähnt, daß sie bei einem der Feste, zu denen ich sie mitschleppte, jemanden kennengelernt hatte. Den Namen hat sie nicht aufgeschrieben, bloß, daß es ein Reporter vom Bee war. Ich weiß noch genau, daß ich, nachdem ich das Tagebuch zum ersten Mal gelesen hatte, dauernd überlegte,
wer von der Zeitung wohl mit ihr geschlafen hatte. Der untersetzte Mann, der stundenweise in der Sportredaktion arbeitet? Einer von den neuen Typen, die für den Politikteil schreiben? Vielleicht hatte er ihr bloß was vorgeflunkert und war überhaupt kein Reporter. Vielleicht arbeitete er in der Buchhandlung oder im Vertrieb. Auf dich wäre ich damals nicht gekommen. Niemals.« Ich zucke mit den Achseln. Kalt füge ich hinzu: »Ich habe bloß geraten. Wenn ich dir nicht so bedingungslos vertraut hätte, wäre ich vielleicht schon eher draufgekommen.«
Ian zuckt zusammen, aber er weicht meinem Blick nicht aus. »Es war nur ein einziges Mal, Nora. Das schwöre ich. Ich hatte was getrunken. Ich weiß, daß das keine Entschuldigung ist, aber es war einfach ein Irrtum. Es ist nur ein einziges Mal passiert. Das mußt du mir glauben.«
Ich sehe den Kummer in seinen Augen, die so schmerzlich blau sind, und ich möchte ihm so gern glauben, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann. »Erzähl«, sage ich.
Er starrt auf seine Hände. Wie ein nervöses Kind hält er eine Hand in der anderen. Schließlich sagt er: »Sie hat mich fünf-oder sechsmal angerufen, nachdem ich im Anschluß an die Party mit ihr geschlafen hatte. Sie war … ziemlich hartnäckig. Ich glaube, sie war der Meinung, wenn wir uns öfter sehen würden, würde ich sie allmählich liebgewinnen. Ich hätte ihr von Anfang an die Wahrheit sagen müssen – daß ich an einer Liebesbeziehung mit ihr nicht interessiert war. Aber ich habe es nicht getan. Ich weiß, wie schwer es ihr gefallen sein muß, mich anzurufen. Ich weiß, daß sie es aus Verzweiflung getan hat. Ihr die Wahrheit zu sagen – daß ich einfach nicht interessiert war – erschien mir zu grausam. Also erfand ich jedesmal irgendeine Ausrede, warum ich mich nicht mit ihr treffen könne. Es war für uns beide ziemlich peinlich. Das Ganze endete damit, daß ich ihr mit der üblichen ›Vielleicht können wir Freunde bleiben‹-Tour kam. Da war Schluß mit den Anrufen.
Ich war natürlich erleichtert, hatte aber auch Gewissensbisse. Ich war mit der Situation von Anfang an nicht besonders gut umgegangen. Danach habe ich nie wieder etwas von ihr gehört – bis zu dem Tag, als ich in der Zeitung von ihrem Tod las. Mein schlechtes Gewissen verstärkte sich noch. Ich wußte, daß ich netter zu ihr hätte sein sollen. Irgendwie glaubte ich wohl, mein Verhalten wettmachen zu können, indem ich dir in der Zeit nach ihrem Tod beistand. Ich nehme an, ich sah darin eine Art Wiedergutmachung. Ich fühlte mich zu dir hingezogen, wollte dir zur Seite stehen und dir helfen, so gut ich konnte. Dann …« Er breitet mit einer ratlosen Geste die Arme aus. »Dann habe ich mich in dich verliebt.«
Ich schweige eine Weile. Franny hat Ian belästigt. Sie hat ihn mehrmals angerufen, weil sie seine Aufmerksamkeit wollte. In ihrem Tagebuch erwähnt sie – zweifellos aus Scham – lediglich einen Anruf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es gewesen sein muß, hinter einem Mann herzujagen und ihn wiederholt anzurufen, wenn doch klar war, daß er kein Interesse hatte. Bei dem Gedanken zieht sich mir das Herz zusammen. Seine Zurückweisung muß sie sehr verletzt haben. Ich wünschte, ich wäre dagewesen, um sie zu trösten. Bitter sage ich: »Habe ich das jetzt richtig verstanden? Du hast mir nicht erzählt, daß du Franny gefickt hast, weil du den richtigen Moment verpaßt hast? Und dann hast du dich in mich verliebt, und da konntest du es mir natürlich nicht mehr sagen.«
»Ich habe mich
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