Brennende Fesseln
Werk. Mit dem Handrücken wischt sie sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Dann steht sie auf und dreht langsam eine Runde über den Rasen. Wonach sie dabei Ausschau hält, weiß ich nicht. Ich folge ihr.
»Was gibt es Neues?« frage ich. Sie weiß, daß ich unsere Nachbarn meine.
Sie schaltet den Rasensprenger ein. Man hört zunächst ein leises, gurgelndes Geräusch, dann sprudelt das Wasser hoch, und ein gleichmäßiger Sprühregen setzt ein. »Nun ja«, sagt sie, und während sie sich hinunterbeugt, um einen der Sprühköpfe zu verstellen, erzählt sie mir, was in der Nachbarschaft so los ist. Fast alles, was ich über meine Nachbarn weiß, habe ich von ihr.
»Ein paar Häuser weiter«, sagt sie, »graben die Besitzer ihren Garten um, sie wollen ihn neu anlegen.«
Ich blicke die Straße hinunter und entdecke einen großen Erdhaufen. Es überrascht mich, daß er mir vorher nicht aufgefallen ist. Ich beneide meine Nachbarn um ihr normales Leben. Niemand von ihnen muß sich wegen eines Mörders Gedanken machen und sich ständig nervös nach einem Verfolger umblicken. Niemand von ihnen muß sich den Kopf darüber zerbrechen, was wohl in zwei Wochen sein wird.
In dem Moment kommt mein Vermieter, Victor Puzo, in beigen Shorts und einem Polohemd die Straße heraufgeradelt und hält vor meinem Haus. Er ist ein schlaksiger Mann Anfang Siebzig, mit dunkler Haut und weicher Stimme. Gelegentlich
kommt er vorbei, um sich zu vergewissern, daß der Gärtner alle anfallenden Arbeiten erledigt. Ich überlasse Ann Marie ihrem Rasensprenger und überquere die Straße, um Victor zu begrüßen. Während ich auf ihn zusteuere, geht mir durch den Kopf, daß ich heute mit mehr Nachbarn rede als sonst in einem Monat. Allmählich komme ich mir vor wie eine dieser exzentrischen alten Damen, hinter deren Rücken ständig getuschelt wird – die Hexe aus der Nachbarschaft. Ich bin das Phantom mit der Kapuze. Die unsichtbare Frau.
Victor betrachtet einen der Bäume in meinem Vorgarten. Er hat die Hände in die Hüften gestemmt und den Kopf schief gelegt. Seine Miene wirkt nachdenklich.
»Hallo, Victor«, begrüße ich ihn. Er sieht zu mir herüber und lächelt mich freundlich an.
»Ich habe ein Schreiben von der Stadt bekommen«, sagt er. »Sie werden die beiden Bäume im Vorgarten austauschen.«
»Warum denn das?« frage ich. Er schirmt mit der Hand seine Augen ab und mustert mich mit einem seltsamen Blick.
»Weil sie sterben.«
Ich blicke zu den Bäumen hoch. Sie sehen tatsächlich nicht gerade gesund aus. Es ist jetzt Ende August, und sie verlieren schon die Blätter. Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie das eigentlich erst im Herbst tun sollten. Ich erinnere mich an letztes Jahr, als ihr dichtes Laub einen schattenspendenden Baldachin über dem Vorgarten bildete. Dieses Jahr sind sie nur spärlich belaubt, und die Äste sehen dürr aus. Wann hat das angefangen, denke ich. Dann wird mir bewußt, daß es mir im Grunde völlig egal ist.
»Sie haben flache Wurzeln«, erklärt er. »Deswegen leben sie nicht lange.«
»Ist das normal?« frage ich, obwohl es mich eigentlich gar nicht interessiert.
»Für diese Sorte ja.« Und er erzählt mir, daß es sich um eine Baumart handelt, deren Lebensspanne in der Regel nur zehn
bis fünfzehn Jahre beträgt. Dann deutet er auf die Bäume in den Nachbargärten, erklärt mir, welche langlebig sind und welche besonders viel Schatten spenden.
»Sehen Sie den da?« sagt er und deutet die Straße hinauf. »Dieser Baum ist ein guter Schattenspender.«
Bei dem Wort »Schattenspender«, muß ich an »Samenspender« denken und würde am liebsten losprusten. Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Lachen, weil Victor mich schon wieder so seltsam anstarrt.
»Wie geht es Richard und Abby?« frage ich aus reiner Höflichkeit. Richard, sein Sohn, ist ebenfalls im Baugeschäft. Er und seine Frau wohnen ein paar Häuser weiter. Victor und er haben das Haus, in dem ich wohne, gemeinsam gebaut, und Richard hat selbst eine Weile darin gewohnt, bevor er das andere Haus baute.
»Gut«, antwortet er, den Blick immer noch auf den kahlen Baum gerichtet. »Es ist alles in Ordnung. Das Baby soll im Januar kommen.«
»Das Baby?« frage ich, und er klärt mich darüber auf, daß Abby schwanger ist.
»Das habe ich nicht gewußt«, sage ich. »Sie ist wirklich schwanger? Das ist ja unglaublich!« Aus irgendeinem Grund überrascht mich Abbys Schwangerschaft. Es kommt mir so vor, als hätte ich erst vor ein paar
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