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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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ich erneut nach dem Telefon greife, stoße ich es aus Versehen um. Ich taste danach, bis ich endlich den Hörer in der Hand habe. Nichts. Dann höre ich das Atmen. Ich hätte nicht rangehen sollen, aber als ich das schrille Klingeln hörte, habe ich nicht an den Anrufbeantworter gedacht. Ich presse den Hörer ans Ohr und lausche, ohne etwas zu sagen. Er sagt auch nichts. Nur das gleichmäßige Atmen verrät mir, daß er noch dran ist. Ist es Ian oder M.? Ich glaube, es ist Ian, aber wie kann ich mir da sicher sein? Ich setze mich auf und höre ihm weiter zu, unfähig, ein Wort herauszubringen. Ich sollte auflegen, aber ich kann nicht. Eine morbide Neugier – oder vielleicht ist es Angst, ja, das ist es, Angst vor dem Unbekannten – läßt mich am Telefon ausharren. Meine zwei Wochen sind fast abgelaufen. Während ich seinem rhythmischen Atmen lausche, bekomme ich vor Angst kaum mehr Luft. Im Zimmer ist es so dunkel. Ich meine, Geräusche zu hören, weiß aber, daß ich mir das nur einbilde. Im Haus kehrt wieder Stille ein; es war nur
eine Katze, die übers Dach lief. Weder Ian noch M. schleicht durch mein Haus. Aber einer von beiden ist hier am Telefon. Einer von beiden hat mir die Nachricht geschickt. Das Atmen hört nicht auf. Ich schließe fest die Augen und lausche. Mein eigener Atem klingt flach und angsterfüllt. Irgendwann lege ich auf, kann aber nicht mehr einschlafen.
    Von da an nehme ich jeden Abend den Hörer ab, bevor ich ins Bett gehe.

36
    Mit Ian treffe ich mich nicht mehr, deswegen verbringe ich die meisten meiner Abende in M.s Haus. Wir haben bereits bestimmte Gewohnheiten entwickelt. Er wacht vor mir auf, macht Kaffee und bringt mir eine Tasse ins Schlafzimmer. Wenn ich noch schlafe, stellt er sie auf den Nachttisch. Mein Leben ist ohne Ian viel einfacher geworden. Ich muß nicht mehr lügen, niemanden mehr betrügen. Ich muß keine Rechenschaft mehr darüber ablegen, wo ich mich wann aufhalte, das bedeutet eine große Erleichterung. Ich schlafe besser, und die dunklen Ringe unter meinen Augen sind verschwunden.
    Ich will mich gerade aufsetzen, als M. ins Zimmer kommt. Er hat sich ein blaues Handtuch um die Hüfte gewickelt, und sein Haar ist noch feucht vom Duschen. Er tritt ans Bett und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, ehe er sie mir reicht
    – er weiß, daß ich den Kaffee sonst nicht anrühre. Er schlüpft wieder unter die Decke.
    »Es ist schön, dich in meinem Bett zu sehen, wenn ich morgens aufwache«, sagt er, und ich weiß, daß er es wirklich so meint. Er kuschelt sich an mich. Sein Körper ist noch ganz warm von der heißen Dusche. »Und am Abend habe ich dich auch gern hier«, fügt er hinzu. Er drückt mich an sich, und ich lehne mich gegen ihn. Ich halte die Kaffeetasse in der Hand
und warte darauf, daß die Wirkung des Koffeins einsetzt und ich endlich richtig wach werde. Ich werfe einen Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch steht, und stelle fest, daß es noch nicht einmal sechs ist. Durch das Erkerfenster sehen wir im schwachen Licht des frühen Morgens ein paar Amseln vom Zaun auf den Rasen flattern. Rameau liegt friedlich im Hof und ignoriert sie.
    M. massiert sanft meinen Kopf. »Meinst du nicht, daß es an der Zeit ist, mir den Rest deiner Geschichte zu erzählen? Ich würde ihn gern hören.«
    Ich seufze, weil ich nicht sicher bin, ob mir nach Reden zumute ist. Ich stehe auf, ziehe einen von M.s Bademänteln an und gehe zum Erkerfenster hinüber. Ich zupfe an den Vorhängen herum, deren locker gewebter Gitterstoff sich rauh anfühlt. Der Himmel wird zusehends heller.
    Den Blick immer noch nach draußen gerichtet, sage ich: »Mit einundzwanzig habe ich mich durch Abbinden der Eileiter sterilisieren lassen. Ich mußte nach San Francisco fahren, um den Eingriff vornehmen zu lassen. Weder in Davis noch in Sacramento habe ich einen Arzt gefunden, der dazu bereit war. Sie sagten, ich sei zu jung. Sicher würde ich meine Meinung ändern und irgendwann Kinder wollen. Schließlich fand ich in San Francisco einen Arzt. Er hat es gut gemeint, aber die anderen hatten recht: Mit einundzwanzig ist man zu jung, um eine Entscheidung zu treffen, deren Auswirkungen das ganze weitere Leben beeinflussen. Ich habe ein paar Freunden davon erzählt und dabei große Reden geschwungen. ›Ich brauche keine Kinder, um ein erfülltes Leben zu führen.‹ – ›Kinder sind bloß ein Egotrip; Eltern versuchen, kleine Abbilder ihrer selbst zu schaffen.‹ – ›Ich bin eine Frau, eine

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