Brennende Fesseln
überhaupt?«
»Frannys Mörder«, sage ich schließlich. »Es könnte jeder gewesen sein. Jeder.« Und dann wird mir klar, wieso ich so aufgeregt bin. Ich bin im Begriff, Ian zu verraten.
»Das sage ich Ihnen doch schon die ganze Zeit«, erklärt Joe vorsichtig. Sein kurzärmeliges grünes Synthetikhemd spannt über der Brust. Er nimmt einen Schluck von seinem Bier und betrachtet mich über den Rand des Glases hinweg. Als er es wieder abstellt, sagt er: »Sie haben also endlich Ihre Meinung geändert? Sie glauben nicht mehr, daß er sie getötet hat?«
Es ist seltsam, daß wir beide seinen Namen nie laut aussprechen, als fürchteten wir, damit seine Existenz zu bestätigen, ihn menschlicher zu machen.
»Nein«, sage ich und fügte schnell hinzu: »Doch. Vielleicht.« Ich schweige einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. »Ich weiß es nicht. Da ist noch jemand anders.«
Joe zieht seine buschigen Augenbrauen hoch, schweigt aber. Ich hole tief Luft und sage: »Sie haben erwähnt, daß Sie gegen einen zweiten Verdächtigen ermitteln. Es ist Ian, nicht wahr?«
Joe prustet laut los, verschluckt sich an seinem Bier und hustet ein paarmal. Er grinst, als hätte ich einen Witz erzählt. »Ihr Freund? Lieber Himmel, Nora! Das können Sie doch nicht ernst meinen!«
Jetzt ist es an mir, überrascht zu sein. Ich war mir sicher, daß es sich bei dem zweiten Verdächtigen um Ian handelt. »Ich weiß, es klingt ein bißchen verrückt, aber …«
»Mehr als ein bißchen.«
»Hören Sie mir erst mal zu.« Und ich erzähle ihm von Ians Nacht mit Franny und daß er mir die Sache verschwiegen hat. Ich berichte von dem plötzlichen Interesse für mich, das er
nach ihrem Tod an den Tag legte, von seinem geschickten Umgang mit dem Messer und von der Holzschnitzerei, die er ihr vor ihrem Tod geschenkt hat. Ich hole tief Luft. Dann frage ich Joe, ob er sich an den Mansfield-Mord erinnert. Als er antwortet: »Vage«, erzähle ich ihm, daß die Ermordete Ians Freundin war. »Was ist mit dem Brief und den Fotos, die ich bekommen habe?« frage ich. »Genau wie bei ihr. Sie könnten von Ian sein.«
Wortlos starrt Joe auf den Tisch. Während er geistesabwesend mit dem Bierglas spielt, wird sein Blick nachdenklich.
»Er hat sofort mit mir Schluß gemacht, als ich meinen Verdacht geäußert habe.«
Joe sagt noch immer nichts.
»Und auf die Frage, wo er an dem Tag war, an dem sie ermordet wurde, hat er mir keine Antwort gegeben.« Plötzlich höre ich mich selbst reden, höre, wie ich Ian beschuldige. Langsam schüttele ich den Kopf und verstumme. »Vielleicht bin ich verrückt. Ich weiß selbst nicht mehr, was ich denken soll.«
»Nein«, sagt Joe, als er endlich den Kopf hebt. Der Blick seiner grauen Augen wirkt noch immer nachdenklich. »Sie sind nicht verrückt. Wir müssen das auf jeden Fall überprüfen.«
Ich kehre an diesem Abend nicht in M.s. Haus zurück. Ich bin völlig durcheinander und muß allein sein. War es richtig, Joe von meinem Verdacht gegen Ian zu erzählen? Ich habe ihm die schlüpfende Schlange gezeigt. Sie ist aus Stechpalmenholz geschnitzt, genau wie die, die ich seit letztem Februar auf meinem Wohnzimmertisch liegen hatte. Joe hat mich nach Hause gefahren und beide Schnitzarbeiten mitgenommen.
Nach allem, was heute passiert ist, falle ich erschöpft ins Bett und schlafe sofort ein. Meine Träume sind angsterfüllt, und irgendwann in der Nacht wache ich auf. Irgend etwas ist anders, aber ich weiß nicht, was. Ich setze mich auf und blicke
mich verwirrt um. Meine Uhr, ein elektronischer Wecker mit roter Digitalanzeige, ist tot, die Anzeige schwarz, und von den Straßenlaternen dringt kein Licht durch die Vorhänge. Offenbar ist im ganzen Viertel der Strom ausgefallen – und die Stille hat mich geweckt. Nichts ist zu hören, weder das Summen meines Kühlschranks noch die Klimaanlage meines Nachbarn, die normalerweise die ganze Nacht läuft. Der Mond ist auch verdeckt, so daß es im Raum stockfinster ist. Ein Wagen muß gegen einen Strommast geknallt sein, deshalb wohl der Stromausfall.
Ich lege mich wieder hin und dämmere bereits in jenen hypnagogischen Zustand zwischen Schläfrigkeit und Schlaf hinüber, als plötzlich das Telefon klingelt – mitten in der Nacht ein lautes, aufrüttelndes Geräusch, das die Schwärze wie ein Messer durchdringt. Ich schrecke hoch und will abnehmen, bevor es noch einmal klingeln kann, greife aber daneben. Hart und blechern schallt der Klingelton durch den Raum. Als
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