Brennende Fesseln
Feministin, keine Babyproduzentin.‹ Als ob sich beides nicht miteinander vereinen ließe. In Wirklichkeit hatte ich bloß tödliche Angst, noch einmal schwanger zu werden.«
Ich lache nervös und zupfe weiter an den Vorhängen herum.
»Die Sterilisation war völlig unnötig. Ich hatte ja nicht einmal Sex – das war während meiner fünfjährigen Keuschheitsphase – und nahm außerdem die Pille. Ich war eine junge Dame, die auf Nummer Sicher ging: kein Sex, die Pille und obendrein die Sterilisation.«
Abrupt lasse ich den Stoff los, gehe vom Fenster weg, lasse mich in den blauen Sessel sinken, der in einer Ecke des Raumes steht, und schlage die Beine übereinander. »Mit einundzwanzig erschien es mir logisch«, fahre ich fort. »Ich durfte nicht wieder schwanger werden, ein zweites Mal hätte ich das nicht durchgestanden – auf keinen Fall. Also ließ ich mich sterilisieren, ohne eigentlich genau zu wissen, warum. Ich wollte einfach alles vergessen – die Abtreibung, das Baby, alles, was passiert war.« Nervös spiele ich an der Lehne des Sessels herum, fahre mit der rechten Hand immer wieder darüber. »Aber die Vergangenheit schafft es immer irgendwie, einen einzuholen. Man kann versuchen, sie zu leugnen und so zu tun, als hätte es sie nicht gegeben, aber sie ist da und wartet nur darauf, wieder hochzukommen. Jahre später fragte ich mich: Warum habe ich mich sterilisieren lassen, obwohl doch gar keine Möglichkeit bestand, schwanger zu werden? Ich nahm die Pille, ich war enthaltsam, es gab also absolut keinen Grund für eine Sterilisation. Dann begann mir die Antwort langsam zu dämmern: Ich hatte ein Leben zerstört, deswegen nahm ich mir die Fähigkeit, neues Leben zu erschaffen. Ich würde niemals ein Baby zur Welt bringen. Es war eine Form von Strafe.«
Inzwischen ist mir klar, daß ich nur darauf gewartet habe, M. diese Geschichte zu Ende zu erzählen. Ich hatte fast zwanzig Jahre lang geschwiegen. Das alles einem anderen Menschen gegenüber auszusprechen war zwar schwierig, hatte aber eine reinigende Wirkung. Ich hatte das Bedürfnis, über diese Sache zu reden. Ich hätte es schon vor Jahren tun sollen. Erst jetzt ist mir klargeworden, daß man der Vergangenheit nicht entfliehen kann. Sie gärt in einem, macht sich auf die
seltsamste und schmerzhafteste Weise bemerkbar, bis man ihre Existenz schließlich anerkennt. Warum habe ich so lange gebraucht, um das zu lernen?
Schweigen senkt sich wie ein samtenes Sargtuch über den Raum. Ich denke an die Kinder, die ich nie haben werde, an die Enkel, die mir nie das Alter versüßen werden. Niemand wird je den Fortbestand der Familie Tibbs sichern. Ist diese Strafe gerechtfertigt? Schließlich – und zum ersten Mal in meinem Leben – kann ich diese Frage mit Nein beantworten. Ein langer Seufzer kommt über meine Lippen. Erleichterung. Ich empfinde Erleichterung, auch wenn ich nicht weiß, warum. Abgesehen von meiner Sicht auf die Dinge, hat sich nichts geändert. Aber vielleicht reicht das schon.
Ich gehe zurück zum Bett und schlüpfe wieder unter die Decke. M. legt wortlos den Arm um mich. Er beschränkt sich darauf, zärtlich meinen Rücken und meine Schultern zu massieren. Eine Weile schweigen wir beide. Ich werde schon wieder schläfrig und greife nach der Kaffeetasse.
Schließlich meint M.: »Du könntest eigentlich bei mir einziehen.«
Plötzlich bin ich so wach, als hätte ich gerade meinen sechsten Kaffee getrunken. »Einziehen?« wiederhole ich, während sich meine Finger um die Tasse krallen.
Er steht auf und beginnt sich anzuziehen. »Laß es dir durch den Kopf gehen«, sagt er. »Du weißt, was ich für dich empfinde, und du bist sowieso die meiste Zeit hier.« Fertig angezogen, beugt er sich zu mir herunter, um mich zu küssen. »Und wenn ich nicht ganz falsch liege, fängst du allmählich auch an, etwas für mich zu empfinden.« Bevor ich die Chance habe, etwas zu erwidern, sagt er: »Ich bin vor meiner ersten Stunde zum Frühstück verabredet, wenn ich nicht sofort aufbreche, komme ich zu spät. Wir reden später darüber.« Mit diesen Worten eilt er aus dem Raum und läßt mich völlig verwirrt zurück.
Ich bleibe noch eine Weile liegen und denke über die Absurdität seines Vorschlags nach. Es stimmt, meine Gefühle für ihn wandeln sich. Sie entwickeln sich, beginnen zu wachsen. Ich habe M. Dinge anvertraut, die ich noch keinem anderen Menschen erzählt habe, und unsere sexuellen Spiele – seine Dominanz, meine
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