Brennende Fesseln
schlief sie wieder, die blaue Bettdecke, unter der ihr dürrer Körper nur eine flache Welle bildete, bis zum Kinn hochgezogen. An der Seitenstange des Betts war ein Urinbeutel angebracht, in den sich der durchsichtige Schlauch aus ihrem Katheter entleerte. Ihr Urin hatte eine ungesunde orangerote Farbe. Weder sie noch Mrs. Deever bekamen viel Besuch, auch wenn an den Wänden neben ihren Betten alte Postkarten mit Genesungswünschen hingen.
Mrs. Deever starrte schon eine ganze Weile durch die gläserne Schiebetür, die auf den Hof hinausführte. Draußen war es dunkel, es gab nichts zu sehen, aber sie starrte trotzdem. Ihr untersetzter Körper lag schwer auf dem Bett, ihr Gesicht wirkte müde. Sie trug ein weißes Frotteelätzchen um den Hals. Als sie Franny entdeckte, hellte sich ihre Miene auf. Ihre müden Augen weiteten sich. »Hallo, meine Liebe«, sagte sie. »Wie schön, dich zu sehen. Stell meine Rückenlehne ein bißchen hoch, dann können wir besser reden.«
Franny stellte ihre Tasche und die Tüte mit dem Essen auf den Tisch. Sie beugte sich hinunter und betätigte den Hebel. Mrs. Deevers Abendessen, Truthahn mit Erbsen und als Nachspeise ein Kompott, stand unberührt auf dem Tablett vor ihr.
»Hatten Sie keinen Hunger?« fragte Franny.
Mrs. Deever warf einen Blick auf das Essen und schnitt eine Grimasse. »Mein Magen war heute irgendwie in Aufruhr. Ich kann es ja jetzt mal probieren.« Sie griff nach einer Gabel, nahm ein Stück von dem Truthahn und stocherte in den Erbsen herum. Franny zog sich einen Stuhl ans Bett und öffnete ihre Tüte. Ihr Abendessen bestand aus einem Whopper, einer großen Portion Pommes und einem Schoko-Shake.
Mrs. Deever ließ die Gabel sinken und schob das Tablett weg. »Ich höre lieber auf«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich habe das Gefühl, als müßte ich mich gleich übergeben.« Sie preßte das weiße Lätzchen gegen ihre Lippen. Ihre Brust und ihre Schultern hoben und senkten sich, aber sie übergab sich nicht.
Franny holte eine beige Plastikschüssel aus der Schublade neben dem Bett und stellte sie neben Mrs. Deever. Vielleicht würde sie sie doch noch brauchen. Sie tätschelte ihren Arm.
»Du bist ein liebes Mädchen«, sagte Mrs. Deever und blickte zu ihr hoch. »Deine Eltern wären stolz auf dich. Das weißt du doch, oder?«
Franny lächelte.
»Sie waren nette Leute. Richtige Familienmenschen. Sie sind mit dir, Nora und Billy immer irgendwo hingefahren – zum Campen, ins Museum, zum Picknicken. Ich wünschte, mein Frank wäre mehr wie dein Vater gewesen. Wenn er sich bloß ein bißchen mehr für seine Familie interessiert hätte!« Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Der Tod deines Bruders war ein schwerer Schlag für deine Eltern. Sie sind nie darüber hinweggekommen. Aber welche Eltern würden das schon? Ein solches Kind zu verlieren! Das hat sie verändert.« Sie drückte Frannys Hand. »Dich hat es auch verändert, nicht wahr? Es muß schrecklich für dich gewesen sein, die Leiche deines Bruders zu finden. Du warst noch zu klein, um einen solchen Anblick zu verkraften.«
Franny hörte zu, sagte aber nichts.
Plötzlich griff Mrs. Deever nach der Plastikschüssel. Sie hielt sie sich unter den Mund und würgte eine helle, schleimige Flüssigkeit hervor. Als sie fertig war, trug Franny das Tablett mit der Schüssel ins Bad und wusch beides aus. Anschließend befestigte sie das Tablett wieder an der Seite von Mrs. Deevers Bett.
»Sie haben heute wohl keinen guten Tag?« fragte Franny, neben dem Bett stehend.
Mrs. Deever schüttelte den Kopf und seufzte schwer. »Was ist bloß mit mir passiert, Franny? Wie konnte es so weit kommen?« Sie starrte auf die Bettdecke hinunter, auf die Stelle, wo früher einmal ihre Beine gewesen waren und jetzt nur noch zwei dicke Oberschenkel lagen, die abrupt in einem Stumpf endeten. Mit einem erneuten Seufzer legte sie ihre Hand auf die von Franny.
Franny senkte den Blick. Sie hatte auch einen kleinen Stumpf, seit sie sich mit einem Papierschneider den kleinen Finger abgeschnitten hatte. Das war vor langer Zeit passiert, kurz nach Billys Tod, als sie mit ihren Eltern nach Montana gezogen war.
Mrs. Deever ertappte sie dabei, wie sie auf den Stummel starrte. »Das ist besser, als ein Bein zu verlieren«, meinte sie. »Niemand stört sich daran, wenn eine Frau nur neun Finger hat. Du solltest dir deswegen keine Gedanken machen – das fällt kaum auf.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich war mal recht
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