Brennende Fesseln
meinen eigenen anwesend sein würden. Statt dessen waren Hunderte
von Menschen erschienen, von denen ich die meisten nicht einmal kannte. Meine Freunde und Kollegen vom Bee waren alle da, außerdem sämtliche Nachbarn und die paar Freunde, die Franny mir im Lauf der Jahre vorgestellt hatte. Aber wer waren all die anderen Menschen? Personal aus den Geschäften, in denen sie eingekauft hatte? Der Junge, der ihr die Zeitung gebracht hatte? Neugierige? Oder hatte Franny ganz Sacramento und Davis mit einem Netzwerk aus Bekanntschaften überzogen, von denen ich nichts wußte? Da waren ein vornehm aussehender Mann in einem teuren Anzug, eine Gruppe kleiner Mädchen in Wichtel-Uniformen, eine extrem dicke Frau, die Schwierigkeiten beim Gehen hatte, zwei Männer in Rollstühlen. Wer waren all diese Menschen? Ich fühlte mich betrogen, als wäre mir ein Teil ihres Lebens – der Großteil ihres Lebens – entgangen, so wie ich mich auch durch ihren Tod betrogen fühlte.
Nach der Beerdigung kamen ein paar Freunde mit zu mir nach Hause. Die ganze Zeit saß ich stumm neben Ian auf dem Sofa. Er hielt meine Hand in seinem Schoß, umklammerte sie mit beiden Händen. Maisie hatte sich um Essen und Trinken gekümmert und war damit beschäftigt, Platten mit Sandwiches und Kuchen auf dem Eßzimmertisch zu arrangieren. Sie ist ein paar Jahre älter als ich und mindestens fünfzig Pfund schwerer, mit dicken Waden und dunkel gebräunter Haut. Sie brachte Ian und mir einen Teller mit Broten, tätschelte meinen Arm und ging wieder in die Küche. Die Leute gingen in der Wohnung umher und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Immer wieder trat jemand auf mich zu und sagte etwas Nettes über Franny. Ich lächelte jedesmal höflich, ohne ein Wort zu sagen. Ian mußte ihnen in meinem Namen danken. Ich hatte Angst, daß ich zu heulen anfangen würde, wenn ich den Mund aufmachte, was mir höchst peinlich gewesen wäre.
Schließlich begann meine Benommenheit nachzulassen und
einem Zustand der Erschöpfung zu weichen. Rundherum redeten die Leute über Franny, und ich wünschte, sie würden alle nach Hause gehen. Ich seufzte, aber das Geräusch blieb in meinem Hals stecken und kam schließlich als gequälter Schluchzer heraus. Ich lehnte den Kopf gegen Ian. Ich wollte kein Wort mehr über Franny hören.
Als hätte Ian das gespürt, beugte er sich zu mir und fragte leise: »Möchtest du ein bißchen an die frische Luft? Wir könnten eine Runde spazierengehen.«
Ich nickte und ließ mich von ihm aus der Wohnung führen. Draußen war es warm und windig, ein perfekter Frühlingstag. Die frische Luft tat mir gut. In der Wohnung hatte ich Platzangst gehabt, obwohl mir das vorher nicht klargewesen war. Mit geschlossenen Augen lauschte ich den Vögeln, die in den Baumwipfeln sangen, einem Auto, das aus der Einfahrt rollte, dem traurigen Blöken einer kaputten Lastwagenhupe. Ian legte mir die Hand auf die Schulter.
»Warum fahren wir nicht zu mir?« schlug er vor. »Du kannst bei mir übernachten. Ich schlafe auf dem Sofa.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich. »Ich kann nicht.«
»Die Leute werden bald aufbrechen. Du brauchst nicht dazubleiben – Maisie wird sich um alles kümmern.«
»Ich möchte heute nacht hier schlafen. In meiner eigenen Wohnung.«
Ian sagte nichts mehr. Er massierte meine Schultern, meinen Nacken. Schließlich meinte er: »Ich hätte trotzdem ein besseres Gefühl, wenn du mit zu mir kämst. Ich finde, du solltest heute nacht nicht allein sein.«
»Nein«, antwortete ich. »Ich will nicht. Ich bleibe hier.«
»Gut. Dann bleibe ich eben bei dir.«
Später, als Ian längst auf der Couch lag und schlief, schlich ich mich zur Tür hinaus und fuhr zu Frannys Wohnung. Die Polizei hatte sie versiegelt, so daß ich nicht hinein konnte. Ich
stand in der kalten Nachtluft vor der Tür, über mir den schwarzen Himmel, und wartete – worauf, weiß ich nicht.
Drei Wochen später gab die Polizei die Wohnung frei. Franny hatte die Miete bis zum Monatsende bezahlt, und ich überredete den Hausverwalter, mir einen Schlüssel zu geben. Am Abend fuhr ich hinüber. Ich ging in ihr Wohnzimmer, machte aber kein Licht. Ein schwindelerregendes Gefühl der Hilflosigkeit überfiel mich. Ich ging zur Couch hinüber, setzte mich und zog die Beine an. Die Wohnung war von einer Reinigungsfirma gesäubert und neu gestrichen worden, und es roch noch nach der neuen Farbe. Darunter aber nahm ich den widerwärtigen Gestank einer Leiche
Weitere Kostenlose Bücher