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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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diffizile, anstrengende Arbeit, und oft sitzt er stundenlang da, in der einen Hand ein Stück Holz, in der anderen ein Messer oder einen Meißel, und macht winzige Schnitte, die einen Block Stechpalmen-, Buchsbaum- oder Ebenholz in ein Figürchen verwandeln, das für gewöhnlich nicht größer ist als ein paar Zentimeter: Vögel, Insekten, größere Tiere, Karikaturen. Heute schnitzt er an einer Schlange, die gerade aus dem
Ei schlüpft. Eine Strähne seines blonden Haars hängt ihm in die Augen, aber ich bezweifle, daß ihm das bewußt ist. Er arbeitet so konzentriert, daß er nichts anderes wahrnimmt. Jeder Schnitt sitzt perfekt.
    Ich lege den New Yorker weg und gehe zu ihm hinüber, lege sanft meine Hand auf seine Schulter. Das Messer hält mitten in der Bewegung inne, und er blickt fragend zu mir auf. Gegen meinen Willen muß ich über das Bild lächeln, das er abgibt: ein Schrank von einem Mann, der aussieht, als könnte er ein ganzes Feld allein pflügen, beschäftigt mit einer winzigen Schnitzerei, die so filigran ist, daß sie in seiner Faust ganz verloren wirkt. Ohne sich dessen bewußt zu sein, streicht er ganz leicht mit dem Daumen über das Holz.
    »Ich habe Lust auf selbstgemachtes Popcorn«, sage ich. »Möchtest du auch welches?« Zerstreut nickt er, lächelt und wendet sich wieder seiner Schnitzarbeit zu.
    »Ich muß erst Mais besorgen«, füge ich hinzu. »Es dauert nur ein paar Minuten.« Aber Ian ist schon wieder mit seiner Schlangenskulptur beschäftigt, und ich bezweifle, daß er mich gehört hat. Ich schnappe mir Autoschlüssel und Tasche und fahre meinen Honda aus der Garage. Rund um das Haus spenden neue, energiesparende Straßenlampen ein gespenstisches orangefarbenes Licht, das kaum ausreicht, um die Straße zu beleuchten. Ich biege in den Mace Boulevard ein, wo die Lampen nur mehr in großen Abständen stehen. Die Straße ist dunkel, ruhig und menschenleer, und über die angrenzenden Felder wirft das Mondlicht düstere Schatten. Ich fahre weiter, bis die Felder kleinen Parzellen Platz machen. Dann taucht rechts von mir der El Macero Country Club auf, und auf der linken Straßenseite reihen sich einfache Wohnhäuser aneinander. Ich biege in das Einkaufszentrum ein. Nachdem ich das Regal mit dem Popcorn-Mais ausgemacht habe, kann ich mich eine Weile nicht entscheiden, welche Sorte ich kaufen soll: Mais pur, mit Buttergeschmack, mit Kräuter- und
Knoblauchgeschmack, mit oder ohne Salz, leicht gebuttert, mit Käsegeschmack. Schließlich entscheide ich mich für eine Packung von dem leicht Gebutterten und gehe zurück zum Eingangsbereich des Supermarkts. So spät am Abend sind nur noch wenige Kunden unterwegs, und der Laden wirkt seltsam ruhig. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbricht, ist das sporadische Schluchzen eines kleinen Mädchens, das seiner Mutter durch den Gang mit den Cornflakes folgt.
    Ich reiche der Kassiererin fünf Dollar, warte auf das Wechselgeld und trete dann in die kühle Nachtluft hinaus. Der Himmel ist schwarz und klar, und geistesabwesend nehme ich die Bilder um mich herum auf – weiter vorn fummelt ein alter Mann mit seinen Wagenschlüsseln herum; eine untersetzte blonde Frau fordert ihren Sohn mit lauter Stimme auf, nicht ständig zwischen den geparkten Autos hin und her zu laufen; ein Angestellter des Supermarkts rollt eine Reihe von Einkaufswagen über den Asphalt zum Geschäft.
    »Hey! Sie!«
    Ich blicke auf und sehe den alten Mann hektisch in meine Richtung winken.
    »Passen Sie auf!« schreit er, und gleichzeitig höre ich ganz in meiner Nähe ein lautes Motorengeräusch. Ich drehe mich um und sehe einen dunklen Wagen auf mich zuschießen. Das Heck schleudert, als hätte der Fahrer die Kontrolle über seinen Wagen verloren. Ich mache einen Satz zurück und pralle gegen einen geparkten Lastwagen. Der andere Wagen – seine Fenster sind schwarz getönt, der Fahrer ist nicht zu sehen – verfehlt mich nur um Haaresbreite. Der Wagen beschleunigt und verschwindet mit quietschenden Reifen um die Ecke. Ich kauere neben dem Lastwagen, unfähig, mich zu bewegen.
    »Diese verdammten Teenager«, murmelt der alte Mann, als er mich erreicht, und zieht mich am Ellbogen hoch. »Die fahren einfach zu schnell. Nie passen sie auf. Sie hätten Sie umbringen können.«

    Zitternd richte ich mich auf.
    »Alles in Ordnung?« fragt er.
    Ich nicke, denke dabei aber nicht an Teenager, sondern an M. Wut steigt in mir hoch. Die blonde Frau von vorhin kommt quer über den

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