Brennende Fesseln
überhaupt nicht bewußt war. Sagen Sie es mir.«
»Es gibt keinen solchen Grund. Und ich halte meinen derzeitigen Freund auch nicht auf Distanz. Wir stehen uns sehr nahe.«
»Eine natürliche Reaktion – und nur vorübergehend. Sie
verlieren Ihre Schwester, Sie wenden sich einem anderen Menschen zu, weil Sie bei ihm Trost suchen. Das wird nicht lange dauern.«
Ich spüre, wie mir die Zornesröte in die Wangen steigt. »Sie wissen überhaupt nichts über mich«, sage ich. »Oder über meinen Freund.«
»Vergessen Sie ihn. Er interessiert mich nicht. Ich will wissen, warum Sie noch nie einen Mann geliebt haben.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich habe schon viele Freunde gehabt«, erkläre ich und starre auf den Boden.
»Aber nie einen geliebt.« Er klingt beharrlich.
»Ich liebe meinen jetzigen Freund.«
Er wirft mir einen kalten Blick zu. »Schön«, sagt er, aber ich weiß, daß er mir nicht glaubt. »Sie lieben jemanden – zum ersten Mal in Ihrem Leben, und das mit fünfunddreißig Jahren. Ziemlich seltsam, finden Sie nicht?«
»Überhaupt nicht seltsam. Ich habe eben nie den Richtigen gefunden.«
»Sie lügen. Da steckt mehr dahinter.«
»Ich hatte beruflich viel zu tun«, sage ich. »Und davor war ich mit meinem Studium beschäftigt. Ich hatte keine Zeit für eine intensive Beziehung – und auch keine Lust darauf. Ich wollte mich nicht ernsthaft auf jemanden einlassen.«
M. schweigt einen Moment. Dann sieht er mich an. »Und jetzt nennen Sie mir den wahren Grund«, sagt er.
Ich schweige. Ich kenne die Antwort auf diese Frage – ich hatte schließlich jahrelang Zeit, darüber nachzudenken –, aber er ist der letzte Mensch, dem ich sie anvertrauen würde. Wir joggen am Sierra-Sod-Gebäude vorbei, fast schon am Ende unserer Runde, und biegen links in die Montgomery ein.
Er wartet auf meine Antwort. Als nichts kommt, sagt er: »Franny wünschte sich verzweifelt, geliebt zu werden, aber bis ich kam, hatte sie niemanden. Sie dagegen hatten zahlreiche Freunde, gestatteten sich aber bei keinem von ihnen, eine enge
Bindung einzugehen. Sie können das jetzt noch nicht sehen, aber beide Verhaltensweisen sind zwei Seiten ein und derselben Münze. Sie haben mehr mit Ihrer Schwester gemein, als Sie sich vorstellen können.«
Ich lächle in mich hinein: Er mag ja richtig geraten haben, daß ich wie alle Menschen ein paar verborgene Probleme habe, aber unterschiedlicher als Franny und ich können zwei Frauen gar nicht sein. Was das betrifft, liegt er völlig falsch und merkt es nicht einmal. Er versucht vergeblich, mich an den Haken zu bekommen.
»Vielleicht bin ich deshalb keine enge Beziehung mit meinen diversen Freunden eingegangen, weil ich einfach nur meinen Spaß haben wollte – nichts Ernstes, keine Verantwortung, nur Spaß und Spiel.«
»Vielleicht«, sagt er, »aber ich bezweifle das. Sie verheimlichen mir etwas, Nora.«
Ein Radfahrer mit blauer Radlerhose und weißem Oberteil fährt vorbei und nickt uns unter seinem Helm zu. Wir sind wieder dort, wo wir losgelaufen sind, an der Ecke Montgomery und Rosario. M. bleibt stehen, und Rameau folgt seinem Beispiel. Der Hund keucht, die Zunge hängt ihm seitlich aus dem Maul.
Ich stütze die Hände in die Hüften und sehe M. direkt in die Augen. »Sie brauchen nichts über mich zu wissen«, sage ich. Dann zucke ich mit den Achseln. »Es gibt auch nichts zu wissen.«
Mein Sweatshirt ist am Hals durchgeschwitzt, und ich wische mir mit dem Ärmel die Schweißtropfen von der Stirn. M., der weder besonders schwitzt noch keucht, sieht aus, als würde er gerade anfangen zu joggen und nicht schon aufhören.
Ich blicke die Straße hinunter. Von hier aus kann ich die Vorderseite meines Hauses sehen. Am Randstein parkt Frannys schwarzer Cadillac mit den Heckflossen. Seit sie tot
ist, steht er hier; inzwischen ist die Batterie am Ende, und der Wagen fährt nicht mehr. Ich konnte mich sowieso nie überwinden, ihn zu fahren, brachte es aber genausowenig fertig, ihn zu verkaufen. Anfangs beklagten sich die Nachbarn über den unschönen Anblick, seine enormen Ausmaße, seine Häßlichkeit, aber als sie mitbekamen, daß es Frannys Wagen war, verstummten die Klagen. Jetzt tun wir alle so, als würde er gar nicht existieren. Der Wagen steht einfach bloß da, tagein, tagaus, wie eine schlimme Erinnerung, die man nicht los wird.
»Sie haben mir überhaupt nichts über Franny erzählt«, sage ich. »Sie konnte mit Ihnen reden und machte es Ihnen gut mit dem Mund –
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