Brennende Fesseln
wenn ich ihm erzählen würde, was heute abend vor dem Supermarkt passiert ist –, und er würde darauf bestehen, daß ich mich nie wieder mit M. treffe. Ich habe Angst, daß ich Ian wegen dieser Sache verlieren könnte, und diese Angst hält mich davon ab, ihm die Wahrheit zu sagen.
Lächelnd zieht er seine Sachen aus. Ich rutsche ein Stück nach vorn, und er klettert hinter mir in die Wanne. Das Wasser steigt, schwappt fast über. Er ist ein großer Mann, und zu zweit haben wir in meiner kleinen Wanne kaum Platz. Sein rechtes Bein liegt auf dem Wannenrand, das linke hat er angewinkelt. Ich sitze eingequetscht zwischen seinen Beinen, die Knie vor der Brust. Es ist eng und unbequem, aber trotzdem wohltuend. Seine körperliche Anwesenheit beruhigt mich, und als er die Arme um meinen Körper schlingt und mich festhält,
sage ich mir, daß es besser für Ian ist, wenn ich ihm nichts von M. erzähle. Aber dieses Argument zieht nicht. Ich kann mein schlechtes Gewissen körperlich spüren. Es ist genauso greifbar wie die zwei großen Hände auf meinem Bauch.
9
Obwohl mein Haus in der Torrey Street noch innerhalb der Stadtgrenzen liegt – wenn auch im südlichsten Zipfel –, ist dieser Teil von Davis von der eigentlichen Stadt durch die Interstate 80 getrennt, und wenn man von mir aus in Richtung Süden weiterfährt, wird die Gegend schnell ziemlich ländlich. Man sieht meilenweit nichts als flaches Ackerland, bewirtschaftete und brachliegende Felder, gelegentlich ein paar Landmaschinen und hie und da ein altes Haus oder ein einzelndes Geschäftsgebäude – eine Firma, die Pflanzensamen verkauft, eine Baumschule, das Sierra-Sod-Gebäude. M. joggt regelmäßig mit Rameau hier heraus.
Heute morgen bin ich in einen schwarzen Jogginganzug und Tennisschuhe geschlüpft, bin ein Stück die Straße hinaufgelaufen und habe ihn an der Ecke Montgomery und Rosario überrascht. Als er mich sah, lächelte er amüsiert und lud mich zum Mitlaufen ein. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber im Osten schieben sich bereits einzelne Streifen rötlichgrauen Lichts über den Horizont. Der Anblick erinnert mich an Wasser, das durch die Ritzen eines geschlossenen Schleusentors dringt. Wir joggen auf der County Road 104 in Richtung Süden, vorbei an freien Feldern – morgendlich feuchten, dunstbedeckten, monochromen Landschaften, überschattet von einem sonnenlosen Himmel. In der kühlen Luft bildet unser Atem weiße Wolken, wobei ich viel heftiger atme als er. Ich bin schon seit Ewigkeiten nicht mehr gelaufen, und obwohl ich regelmäßig im Fitneßclub trainiere, bin ich auf eine Strecke
von fünf Kilometern nicht vorbereitet; M. läuft sie jeden Montag, Mittwoch und Freitag.
Ich sehe zu ihm hinüber. Ich gebe zu, daß er ein attraktiver Mann ist. Schlank und fit, hat er den gelassenen, leicht gelangweilten Ausdruck eines Läufers, der nicht einmal annähernd an seine Grenzen geht. Ich bin sicher, daß er langsamer läuft als sonst, damit ich leichter mithalten kann. Er trägt einen marineblauen Jogginganzug mit einem weißen Streifen an der Außenseite der Beine. Und Handschuhe. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Handschuhe mitzunehmen. Meine Finger sind taub von der eisigen Morgenluft.
»Wo waren Sie vorgestern abend?« frage ich.
Er wirft mir einen kurzen Seitenblick zu. »Vorgestern abend?«
»Ja. Gegen halb neun.«
Er überlegt einen Moment. Dann sagt er: »Zu Hause.«
»Allein, nehme ich an.«
»Richtig.«
»Wie praktisch. Und Sie wissen nichts von einem dunklen Wagen mit getönten Scheiben, der mich beinahe überfahren hätte?«
M. bleibt stehen. »Meinen Sie das jetzt ernst?« fragt er, während sein Gesicht einen besorgten Ausdruck annimmt. Ich laufe weiter. Er holt mich wieder ein.
»Ich habe nicht vor, Sie zu überfahren«, erklärt er. »Das muß ein Unfall gewesen sein.«
»Muß es wohl.«
Er sieht mit einem seltsamen Lächeln zu mir herüber. »Wenn ich beschließe, Sie fertigzumachen, Nora, dann werden Sie es mitbekommen. Ich werde mich nicht hinter getönten Scheiben verstecken.«
»Und es wird mehr als einen Beinahe-Unfall brauchen, um mich zu verschrecken. Ich habe vor, die Wahrheit über Franny herauszufinden. Und über Sie.«
Wir joggen schweigend weiter. Rechter Hand tuckert ein einsamer Traktor langsam über einen Fleck brauner Erde, und in der Ferne sehe ich einen Mann mit einer Art motorisiertem Dreirad über ein Feld fahren und hin und wieder anhalten, um die Bewässerungsrohre zu
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