Brennende Fesseln
klar, daß ich hergekommen bin, um mir Kraft und Rat zu holen. Ich habe mit M. noch kaum Fortschritte gemacht. Ich jogge dreimal die Woche mit ihm – wenn Ian nicht bei mir übernachtet – und habe keine Schwierigkeiten mehr, mit ihm mitzuhalten, aber er erzählt mir nichts über Franny, was irgendwie von Belang wäre. Statt dessen verschwendet er meine Zeit, indem er mich über mein Leben, meine Überzeugungen, meine Gefühle ausfragt – allerdings ohne Erfolg. Ich
bin ein extrem introvertierter Mensch, der sein Leben nicht ohne weiteres vor anderen ausbreitet. Außerdem merke ich, wie er mich ansieht. Er will mit mir ins Bett – eine schreckliche Vorstellung, aber immer noch weniger beängstigend als die, ihm Teile meiner Seele zu überlassen. Eigentlich könnte ich sein Verlangen für meine Zwecke nutzen.
Plötzlich weiß ich, was ich tun werde. Wahrscheinlich wußte ich es schon die ganze Zeit. Ich knie nieder und streiche mit den Fingern leicht über Frannys Grabstein. Meine Fingerspitzen lesen die eingemeißelte Inschrift, als wäre es Blindenschrift. Die eisigen Buchstaben, die ihrem vorzeitigen Tod eine steinerne Endgültigkeit verleihen, strömen eine beunruhigende Kälte aus, die langsam meine Wirbelsäule hinaufkriecht. Einmal mehr verspreche ich Franny, daß ich ihren Mörder finden werde.
In seinem Arbeitszimmer hat M. eines dieser großen, aus mehreren Elementen zusammengesetzten Sofas stehen, mit denen man ganze Wände vollstellen kann. Seines ist kastanienrot. Die Beleuchtung ist schummrig, die Stimmung pseudoromantisch. M. sitzt mir gegenüber in einem Sessel.
Ich habe mir heute abend besondere Mühe mit meinem Outfit gegeben, in dem auberginefarbenen Kleid, das sich eng um meinen Körper schmiegt, sehe ich ziemlich gut aus. Das Kleid hat vorn einen Reißverschluß, der am V-Ausschnitt beginnt und bis zum Saum durchläuft. Wenn M. den Reißverschluß erst einmal hinter sich gebracht hat, wird er darunter einen Spitzen-BH, String-Tanga, Strapsgürtel und Nylonstrümpfe finden, alles in Schwarz. Ich bin heute hier, um ihn zu verführen.
Ich streife meine hohen Schuhe ab, lehne mich auf dem Sofa zurück und lege die Füße auf die Kissen. Wenn M. glaubt, daß er mich monatelang hinhalten kann, indem er mir unwichtiges Zeug über Franny auftischt, hat er sich getäuscht. Und
wenn er glaubt, daß er mich emotional genauso überwältigen kann wie meine Schwester, dann hat er sich schon wieder getäuscht. Männer sind nicht so schwer zu verstehen. Ich bin noch mit allen Männern in meinem Leben fertig geworden, und ich werde auch mit M. fertig werden. Und wenn ich mit ihm fertig bin, wird er mir alles sagen, was ich wissen muß.
»Sie wollen mich vögeln«, sage ich.
M. antwortet nicht, aber ich sehe, daß er eine Augenbraue hochzieht. Er hat einen Drink in der Hand, einen Martini, und hebt das Glas an die Lippen. Das Licht hinter ihm läßt die Konturen seines Kopfes scharf hervortreten, aber sein Gesicht liegt im Schatten, so daß ich seinen Blick nicht sehen kann. Er trägt ein dunkles Hemd aus einem weichen, seidigen Stoff und wirkt in dem schummrigen Licht irgendwie geheimnisvoll. Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn mit einem Messer in der Hand über dem Körper meiner Schwester knien und ihre Haut aufritzen. Plötzlich habe ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend und presse eine Hand gegen meinen Bauch.
»Spielen Sie heute die Verführerin, Nora? Das ist aber ziemlich durchsichtig, finden Sie nicht? Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, etwas nicht ganz so Offensichtliches.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäusche«, sage ich und nippe an meinem Drink, Scotch mit Wasser, um das Bild von Franny wegzuwaschen und mir Mut zu machen. »Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß man mit Sex am schnellsten ans Ziel kommt, wenn man von einem Mann etwas will, zum Beispiel…« Ich zögere.
»Zum Beispiel was?«
Ich zucke die Achseln. »Sein Herz, seinen Verstand, seine Seele, seine Brieftasche. Egal, was.«
Er beugt sich vor und stellt seinen Drink auf den Tisch neben sich. »Und was denkt Ihr neuer Freund über diese Ihre Philosophie?«
»Er hat damit nichts zu tun.«
M. steht auf und kommt auf mich zu. Mit einer abrupten Bewegung packt er mein Haar und zieht meinen Kopf nach hinten. »Ich glaube nicht, daß Sie auch nur annähernd so zynisch sind, wie Sie mich glauben machen wollen«, sagt er. Er beugt sich zu mir herunter, bis sein Gesicht knapp über meinem
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