Brennende Fesseln
überprüfen.
Schwer atmend laufe ich weiter. Meine Füße trommeln über den Asphalt, während M. leichtfüßig und locker dahinjoggt. Neben ihm komme ich mir regelrecht plump vor. »Normalerweise trainiere ich im Fitneßclub«, erkläre ich und versuche, normal zu atmen. »Schwimmen, Gewichte, Aerobic, Jazzgymnastik. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr gelaufen.«
»Das merke ich«, sagt er, und ich höre die Herablassung in seiner Stimme. Ich erhöhe mein Tempo, obwohl das Atmen dadurch schmerzhafter wird.
»Sie haben gesagt, Sie wüßten von Frannys Tagebuch«, fange ich an.
»Ja, ich habe es sogar gelesen.«
»Dann wissen Sie ja, wie bruchstückhaft es ist. Und daß sie ihre Eintragungen irgendwann abgebrochen hat. Der letzte Teil ihres Lebens fehlt.«
Ich stelle das Reden ein, um wieder zu Atem zu kommen, und wir laufen eine Weile schweigend weiter.
»Sie haben mir bei unserem Abendessen kürzlich überhaupt nichts über Franny erzählt«, sage ich schließlich. »Ich möchte wissen, was in den Wochen vor ihrem Tod passiert ist.«
»Nicht so schnell«, sagt M. »Eines möchte ich noch mal klarstellen: Wir werden streng chronologisch vorgehen. Die Wochen vor ihrem Tod spare ich mir für den Schluß auf.« Zögernd fügt er hinzu: »Und ich kann Ihnen auch nur bis zu einem gewissen Punkt mit Informationen dienen. Ich habe Franny nicht getötet. Was das betrifft, werden Sie anderswo suchen müssen. Trotzdem kann ich Ihnen eine Menge erzählen.«
Wir joggen weiter. Ich bin verärgert, versuche es aber nicht
zu zeigen. Das ist schließlich sein Spiel, und ich muß es nach seinen Regeln spielen – zumindest glaubt er das. Meine Schuhe trommeln rhythmisch über den Boden. Ich hatte geglaubt, meine Kraftreserven wären nahezu erschöpft, aber plötzlich fühle ich mich wieder frischer, und ich bin fest entschlossen weiterzulaufen, auch wenn mir die Waden und die Lunge weh tun.
»Also gut«, sage ich schließlich. »Wir machen es auf Ihre Art. Erzählen Sie mir etwas über Franny – etwas, das ich noch nicht weiß.«
Gedankenverloren starrt er über eine weite, fast endlos wirkende Wiese, deren Gras unter dem heller werdenden Himmel allmählich Farbe annimmt. Der Morgentau läßt es wie Samt schimmern. M. läuft unbeirrt weiter. Sein Tempo ist gleichmäßig und für seine Verhältnisse gemütlich.
Schließlich sagt er: »Es gibt zwei Dinge, in denen Franny besonders gut war: Reden – ich nehme an, das wird Sie überraschen – und Oralsex.« Er schweigt einen Moment. »Wenn ich es mir genau überlege, wird Sie wahrscheinlich beides ziemlich überraschen.«
Oralsex? Ich gebe ihm keine Antwort. Durch die Lektüre von Frannys Tagebuch ist mir klargeworden, daß sie, wie jeder andere Mensch auch, sexuelle Bedürfnisse hatte. Trotzdem habe ich immer noch Schwierigkeiten, mir vorzustellen, daß sie diesem Mann den Schwanz gelutscht hat – und gut darin war. Oder es sogar genossen hat.
Er spricht weiter: »Anfangs war sie in beidem schrecklich. Sie war sehr schüchtern, als wir uns kennenlernten, und es bereitete ihr Probleme, über Sie oder Ihre Eltern oder Ihren Bruder zu sprechen, oder darüber, was sie selbst fühlte, aber als sie mir erst einmal vertraute, öffnete sie sich mir immer mehr. Vielleicht sollte ich lieber sagen, daß ich sie gezwungen habe, sich mir zu öffnen. Ich habe ihr keine andere Wahl gelassen: Ich habe sie gnadenlos ausgefragt, bin jedesmal ein bißchen
tiefer in ihre Psyche eingedrungen. Sie war bis zum Schluß schüchtern und ängstlich, und sie konnte sich mir gegenüber nie behaupten, aber wenigstens gelangte sie an einen Punkt, wo sie in der Lage war, ihre Gefühle ziemlich gut zu artikulieren – zumindest mir gegenüber, wenn schon bei niemand anderem. Ich weiß eine Menge über Sie, Nora. Ich weiß, wie Franny Sie gesehen hat, was sie von Ihnen hielt und was sie von Ihnen gebraucht hätte, aber nicht bekam.«
Ich ignoriere seinen Versuch, mir Schuldgefühle einzureden. Ich war selbst noch fast ein Kind, als Franny damals zu mir kam, und ich tat, was ich konnte, um für sie zu sorgen. Die Eltern konnte ich ihr nicht ersetzen – das weiß ich. Ich war nicht perfekt, aber ich tat mein Bestes. Ich jogge weiter, ohne seinen Köder zu schlucken.
»Und was den Oralsex betrifft«, fährt er fort, »war sie eine wahre Katastrophe, als wir uns kennenlernten. Ganz zu schweigen davon, daß es ausgesprochen gefährlich war. Mehr als einmal mußte ich ihre scharfen, schabenden
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