Brennende Fesseln
Frannys Wohnung, eine ältere Frau, die
die Leiche zwei Wochen nach ihrem Tod gefunden hatte, konnte mir auch nicht weiterhelfen. Ihr werde schon übel, wenn sie nur daran denke, sagte sie und wandte den Blick ab. Alles, woran sie sich erinnern konnte, waren der entsetzliche Gestank und die Fliegenschwärme im Raum. Der Rest blieb meiner Phantasie überlassen, und als Autorin wissenschaftlicher Artikel wußte ich, wie sie ausgesehen haben mußte. Ich habe schon bei mehreren Autopsien zugesehen. Bestimmt waren ihre Lippen, ihre Zunge und auch ihre Finger und Zehen eingetrocknet und tiefschwarz. Die Haut muß stellenweise aufgedunsen und mit Blasen bedeckt gewesen sein, das Blut auf ihrem Körper eingetrocknet. In ihren Wunden und Körperöffnungen wanden sich höchstwahrscheinlich Maden, und im ganzen Raum muß es nur so von riesigen, fetten Fleischfliegen gewimmelt haben. Der Tod riecht auf der ganzen Welt gleich, und selbst wenn er in einer abgeschlossenen Wohnung stattgefunden hat, bekommen die Insekten Wind davon, finden einen Weg, in das Gebäude einzudringen, und stürzen sich auf die Leiche.
Und dann, zwei Monate später, als die Ermittlungen zum Stillstand gekommen waren, informierte man mich über die Details. Inzwischen sehe ich sie so deutlich vor mir, als wäre ich selbst dabeigewesen. Ich sehe sie geknebelt in ihrer Wohnung liegen und das Blut von ihrem Körper tropfen. Ich sehe die Schnitte in ihrem nackten Leib, die an feine Holzschnitzereien erinnern. Ich sehe das Klebeband über ihrem Mund und an ihren Hand- und Fußgelenken.
Ich schüttele den Kopf, um dieses Bild loszuwerden. Ich setze mich aufs Bett, greife nach den Handschellen und dem Klebeband und lege beides auf meinen Schoß. Das Bett ist mit dem Inhalt des Plastikbehälters übersät, als hätte ein Handwerker stolz seine Werkzeugsammlung ausgebreitet: Peitschen, Seile, Schläger, Fesseln, Ketten. Diese Sammlung überzeugt mich endgültig davon, daß ich mit M. recht habe.
Trotzdem bin ich enttäuscht. Ich finde keine Rasierklingen, keine Taschenmesser, keine Bilder von gefesselten Frauen, auf deren Körper sich M. mit dem Messer verewigt hat, keine Fotos von Franny. Nichts, was M.s Anwesenheit am Tatort beweisen würde. Ich werde der Polizei das Klebeband zeigen, aber nachdem nun fast ein Jahr vergangen ist, ohne daß ein Verdächtiger verhaftet wurde, habe ich nicht mehr viel Vertrauen in sie. Ich kann förmlich hören, was sie sagen werden: Jeder kann in einen Haushaltswarenladen gehen und eine Rolle Klebeband kaufen.
Die Haustür fällt geräuschvoll ins Schloß.
Ich erstarre. Meine Hand, die gerade das Nietenhalsband nehmen und untersuchen wollte, hält mitten in der Bewegung inne. Ich höre Schritte in der Diele, durch die Entfernung gedämpft, aber doch deutlich, und plötzlich reagiert mein Körper. Ich bewege mich, ohne zu denken. Ich springe so abrupt auf, daß die Handschellen und das Klebeband auf den Boden fallen, und dann fange ich an, alles zurück in den Plastikbehälter zu werfen: die Peitschen, die Ketten, die ganze Sammlung.
»Nora?« ruft M. Jetzt ist er im Flur.
Ich hebe die Handschellen auf und werfe sie in die Schachtel. Wo ist das Klebeband? Ich kann es nirgendwo entdecken.
»Nora? Bist du noch da?«
Ich schließe den Deckel, trage den Behälter in den begehbaren Schrank, schiebe ihn wieder in sein Fach und arrangiere die Schuhkartons und Plastiktüten davor. Der Tritthocker. Ich klappe ihn zusammen und schiebe ihn hinter einen Kleiderständer. Ich stehe in der Schranktür und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, um sicherzustellen, daß nichts fehlt. Der Behälter ist wieder dort, wo er hingehört, der Tritthocker von M.s Mänteln und Jacken verdeckt. Ich greife nach oben an den Lichtschalter und spüre eine eiskalte Hand im Nacken. Ich schnappe nach Luft.
M. fragt: »Hast du mich nicht rufen hören?«
Ich schüttele den Kopf.
Er sieht mich fragend an.
Ich überlege krampfhaft, was ich sagen könnte. »Ich habe mir bloß deinen Bademantel geholt«, sage ich und bin froh, daß ich ihn anhabe. »Mir war kalt.« Ich schiebe die Hände in die Taschen.
»Ich habe meine Jacke vergessen«, sagt M., geht in den Schrank und nimmt eine braune Wildlederjacke vom Bügel. Der Tritthocker ist nicht zu sehen. Ich halte weiter Ausschau nach dem Klebeband. Ich entdecke es neben der Kommode auf dem Boden und stürze hinüber, um es aufzuheben.
»Wie ich sehe, hast du meine Ausrüstung gefunden«, sagt M., der
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