Brennende Fesseln
Plastiktüte und eile zum Polizeirevier hinüber. Die Luft ist beißend kalt, der Himmel strahlend blau und wolkenlos.
Ein junges Mädchen, wahrscheinlich eine College-Studentin, verkauft am Straßenrand Blumen, und ein paar Leute sitzen plaudernd vorm Café Tutti und trinken ihren Kaffee oder Cappuccino, ohne auf das kalte Wetter zu achten. Ein junger Polizist in dunkelblauer Uniform braust mit dem Fahrrad vorbei. Er gehört zur Fahrradstreife der Stadt.
Am Empfang sitzt eine kleine, dunkelhaarige Beamtin. Ich erkläre der Frau, daß Joe Harris mich erwartet, und sie greift nach dem Telefonhörer, um sich das bestätigen zu lassen. Die Frau ist neu, sie kennt mich noch nicht. Ich setze mich auf die Bank und warte. Der Empfangsbereich ist klein, holzvertäfelt und mit Teppichboden ausgelegt. Das Ganze hat mehr von einem Amt, wo man irgendeinen Antrag abgibt. An der Wand hängt ein Glaskasten, in dem die hier beschäftigten Beamten auf kleinen Karten zu sehen sind. Sie erinnern mich an die Karten, mit denen beim Baseball ein reger Tauschhandel betrieben wird. Ich frage mich, ob man sie kaufen kann – als Sammlerstücke, zum Weiterverkaufen oder als Tauschobjekte. Ich wüßte gern, welche der Cops so hoch gehandelt werden, daß man für eine Karte von ihnen zwei andere bekommt.
Nachdem die Beamtin meinen Termin bestätigt hat, gehe ich die Treppe zu den Büros der Detectives hinunter. Ich war seit Frannys Tod schon so oft hier, daß ich mich bestens auskenne. Die meisten Leute, die hier arbeiten, kennen mich oder wissen zumindest, wer ich bin. Ein paar grüßen, als ich den Gang hinuntergehe, andere nicken bloß, aber die meisten, insbesondere die Detectives, wenden sich ab und tun so, als würden sie mich nicht sehen. Ich weiß, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie finden, daß ich in meiner Obsession, Frannys Mörder zu finden, zu weit gegangen bin. Am liebsten wäre es ihnen, ich würde nicht mehr ins Polizeirevier kommen. Sie wollen, daß ich aufhöre, unverschämte Fragen zu stellen und ihnen ständig in den Ohren zu liegen, damit sie Frannys Fall weiterverfolgen. Sie empfinden meine Anwesenheit als Ärgernis.
Nur Joe hört mir noch zu.
Ich trete vor Joe Harris’ Schreibtisch. Er ist ein großer Mann Anfang Fünfzig, der immer aussieht, als würde er gleich überquellen – er ist zu groß für seinen Schreibtisch und seinen Stuhl, seine Kleidung wirkt immer viel zu eng, und seine grauen Locken sehen jedesmal aus, als müßte er dringend zum Friseur. Heute trägt er ein weißes Hemd, von dem er bestimmt bald die Knöpfe sprengen wird. Die Ärmel sind hochgekrempelt, die linke Kragenecke ist ausgefranst. Ich weiß, daß er mich für eine Nervensäge hält. Er ist ein netter Mann, dessen Geduld im Lauf des letzten Jahres auf eine harte Probe gestellt wurde, indem ich mich beharrlich weigerte, mich aus den Ermittlungen herauszuhalten. Auf seinem Schreibtisch steht ein Foto von seiner Frau und seinen drei Kindern. Die Kinder sind inzwischen alle erwachsen, aber auf dem Foto sind sie noch Teenager.
Obwohl er mich nicht dazu auffordert, nehme ich ihm gegenüber Platz. Ich stelle die braune Papiertüte mitten auf seinen Schreibtisch. Er lehnt sich mit leidender Miene in seinem Stuhl zurück, rührt die Tüte nicht an. Joe hat mich von Anfang an freundlich behandelt. Als er mich über die Einzelheiten von Frannys Tod informierte, bemühte er sich, mir alles so schonend wie möglich beizubringen. Und als ich anfing, ständig im Polizeirevier anzurufen und immer neue Fragen zu stellen, nahm er sich stets Zeit für mich und beantwortete meine Fragen, so gut er konnte. Aber als aus den Wochen Monate wurden und sie in Frannys Fall einfach nicht weiterkamen, weil es weder neue Verdächtige noch neue Hinweise gab, ich aber trotzdem weiter anrief und sie drängte, mehr zu unternehmen, obwohl sie mir sagten, daß sie kaum noch etwas tun konnten, da begann auch Joe die Geduld zu verlieren. Inzwischen läßt er sich gelegentlich verleugnen, und er ermahnt mich immer wieder, das Detektivspielen sein zu lassen.
»Machen Sie sie auf«, sage ich.
Joe würdigt die Tüte keines Blickes. Er sieht mich ruhig und leicht mißtrauisch an und fragt dann: »Was ist in der Tüte?«
»Klebeband.« Ich zögere einen Moment. »Ich habe es aus seinem Haus.« Er weiß, daß ich von M. rede.
»Du meine Güte, Nora!« Er seufzt. Es ist ein langer, entnervter Seufzer. Dann öffnet er die Tüte und späht hinein. »Sind Sie bei ihm
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