Brennende Fesseln
hat. Vorsichtig umkreisen wir einander, bewegen uns gemeinsam in einem Tanz der Täuschung.
Auch wenn mir diese Täuschung nach wie vor schwer auf der Seele liegt, so fällt es mir mit der Zeit doch immer leichter, sie aufrechtzuerhalten. Ian anzulügen ist gar nicht so schwierig, wie ich anfangs dachte. Inzwischen akzeptiere ich meine Lügen und die damit einhergehenden Schuldgefühle als einen unschönen Teil meines Lebens.
Heute abend treffe ich mich mit Ian im Ding How zum Essen. Bis dahin habe ich noch drei Stunden Zeit, deswegen beschließe ich zu schreiben. Da ich von meiner Geschichte über M. mal eine Pause brauche, setze ich mich an den Computer und arbeite an einem Artikel über das Anwachsen der Gewalt in Sacramento. Während ich mir die Informationen ansehe, die ich gesammelt habe, beschleicht mich ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Los Angeles, New York City, Chicago – dort rechnet man mit einer solchen Brutalität, aber seit wann ist Sacramento ein so gefährlicher Ort?
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Als Autorin wissenschaftlicher Aufsätze bin ich es gewöhnt, mit empirischen Daten umzugehen, die aus einem geordneten Umfeld stammen, und nicht mit Zeitungsausschnitten und Polizeiberichten, die in allen Einzelheiten die Alpträume des städtischen Lebens schildern: Vergewaltigungen, Raubüberfälle, Körperverletzung, Mord. Mord – darauf läuft es immer hinaus. Ich wechsle die Datei, öffne Frannys Tagebuch und gehe es noch einmal durch, auf der Suche nach Hinweisen. Dann öffne ich die Datei mit den Informationen, die ich von der Gerichtsmedizin und der Polizei bekommen habe. Ich kann einfach nicht verstehen, wieso sie auf so brutale Weise sterben mußte.
Das Telefon klingelt, aber ich stehe nicht auf. Nachdem es dreimal geläutet hat, schaltet sich der Anrufbeantworter ein. Es ist – schon wieder – Maisie, die mit mir schimpft, weil ich sie nie zurückrufe. »Ich mache mir Sorgen um dich«, höre ich sie sagen. »Bitte ruf mich an.« Ich habe ihr gegenüber ein schlechtes Gewissen. Ich weiß, daß ich sie anrufen sollte, aber ich fühle mich im Moment nicht in der Lage, mich mit anderen Menschen zu befassen. Und auf keinen Fall kann ich ihr von M. erzählen.
Um halb sieben gehe ich unter die Dusche, ziehe mich an und fahre hinaus zum Ding How. Das chinesische Restaurant ist klein und schummrig beleuchtet. Es herrscht mäßiger Betrieb,
und aus der Küche dringt würziger Bratenduft. An den Wänden hängen Spiegel, und ein Teil des Raumes ist durch einen chinesischen Paravent abgetrennt. Ich umrunde ihn und finde Ian im hinteren Teil des Restaurants. Er trägt einen dunkelblauen Anzug, weil er direkt von der Arbeit kommt, und studiert die Speisekarte. Nachdem ich ihn zur Begrüßung geküßt habe, setze ich mich, und sofort erscheint ein Kellner an unserem Tisch. Wir bestellen süß-saures Huhn, würziges zweimal gekochtes Schweinefleisch und gebratenen Reis. Der Kellner geht und kehrt kurz darauf mit einer Kanne Tee zurück. Während der Tee zieht, halten wir quer über den Tisch Händchen, die Finger ineinander verschlungen, und genießen die angenehme Vertrautheit, die sich einstellt, wenn zwei Leute sich gut kennen. Ich sehne mich nach den einfacheren Tagen zurück, als Ian mich tatsächlich so gut kannte, wie er mich noch jetzt zu kennen glaubt. Seine Ahnungslosigkeit mindert irgendwie meine Achtung vor ihm. Spürt er denn nicht, daß ich mit einem anderen Mann ins Bett gehe? Die Tatsache, daß ich ihn betrüge, setzt mir so zu, daß ich nachts oft stundenlang wach liege, während er vertrauensvoll neben mir im Bett liegt und friedlich schläft.
Im Hintergrund reden die Leute, Teller klirren, chinesische Kellner huschen vorbei. Ian erzählt mir von seinem Tag und fragt mich dann, wann ich wieder zu arbeiten anfange. Ich zögere.
»Ich weiß es nicht«, sage ich schließlich. »Manchmal vermisse ich meine Arbeit, aber im Moment habe ich zuviel zu tun.«
Ian runzelt kaum merklich die Stirn. Wir haben dieses Thema schon ein paarmal angeschnitten. Er weiß, daß ich allmählich eine Obsession für Geschichten über Tod und Zerstörung entwickle, und ist beunruhigt deswegen. Er sagt, meine Fixierung auf den Mord an Franny verzerre mein Urteilsvermögen, ich würde mich zu sehr auf das Phänomen Gewalt
konzentrieren und seine Bedeutung für den Raum Sacramento überschätzen. Angeblich schlafe ich nachts unruhig, wache morgens mit dunklen Augenringen auf, gebe oft
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