Brennende Fesseln
entschuldigen. Tu das nie wieder!«
Einen Moment lang herrscht angespanntes, peinliches Schweigen. Dann kommt der Kellner mit unserem Essen, und M., der sein Ziel – uns den Abend zu verderben – längst erreicht hat, verabschiedet sich. Ich entschuldige mich bei Ian, erkläre meine Gereiztheit damit, daß ich zuwenig geschlafen habe. Von unserer anfänglichen Vertrautheit ist nichts übriggeblieben. Während des ganzen Essens lassen wir vorsichtig Höflichkeit walten.
Am nächsten Morgen, nachdem Ian zur Arbeit aufgebrochen ist, rufe ich M. an. Die zwölf Stunden, die inzwischen vergangen sind, haben meine Wut nicht gemildert.
»Was hatte denn das zu bedeuten?« frage ich ihn.
»Ich wollte deinen Freund kennenlernen.« Gelassen fügt er hinzu: »Ich war nicht sonderlich beeindruckt.«
»Das brauchst du auch nicht zu sein. Hauptsache, ich bin beeindruckt.«
»Er ist zu weich für dich, Nora. Mit dem wirst du nie glücklich. Du bist wie das Froschweibchen: Du brauchst einen starken Mann.«
»Einen Teufel brauche ich.« Ich lege auf, bevor er antworten kann. Es vergehen vier Tage, bis er wieder anruft. Offenbar schätzt er es nicht, wenn man ihn am Telefon nicht ausreden läßt.
18
Ich sitze in M.s. Hörsaal und lausche seiner Vorlesung über die romantische Musik des neunzehnten Jahrhunderts – Chopin, Mendelssohn, Wagner, Liszt, Verdi, Brahms. Der Raum ist eierschalenfarben gestrichen, ein mittelgroßer Hörsaal mit schräg ansteigender Bestuhlung. Links steht ein Flügel, und während M. spricht, schlendert er quer durch den Raum, den Blick auf uns Studenten gerichtet. Er hat mich heute morgen angerufen und von mir verlangt, seine Nachmittagsvorlesung zu besuchen. M. befiehlt, und ich springe, genau wie Franny vor mir. Es überrascht mich selbst – insbesondere nach der Show, die er letztes Mal im Ding How abgezogen hat –, daß ich immer noch tue, was er will. Ich bin es nicht gewöhnt, von Männern Befehle entgegenzunehmen, aber M. hat etwas, das ich will – den Schlüssel zum Tod meiner Schwester –, und deswegen werde ich sein Spiel spielen. Er hat mir genau gesagt, was ich anziehen soll, und ohne Make-up sehe ich aus wie ein Schulmädchen. Ich trage einen Schottenrock, weiße Kniestrümpfe, flache Halbschuhe, eine weiße, hochgeschlossene Baumwollbluse und eine Haarspange. Nichts davon hatte ich in meinem Schrank. Heute vormittag bin ich ins County-Fair-Einkaufszentrum nach Woodland gefahren und habe bei Mervyn’s in der Teenager-Abteilung eingekauft. Zugegeben, als M. mich anrief und mir sagte, was er wollte, verspürte ich bei dem Gedanken, mich als Schulmädchen zu verkleiden und in einem seiner Psychodramen mitzuspielen, eine gewisse erotische Erregung. Und während ich einkaufte, in der Kabine verschiedene
Röcke anprobierte und mir vorstellte, wie M. mich nach der Stunde dabehalten, meinen Karorock hochschieben und mich auf dem Fußboden des Hörsaals ficken würde, steigerte sich meine Erregung. Jetzt ändere ich das Szenario: Ich möchte, daß er mich auf dem Flügel nimmt.
Ich fühle mich sowohl vom Aussehen als auch vom Alter her auffallend fehl am Platz, aber niemand von den Studenten scheint das zu bemerken oder mir überhaupt Beachtung zu schenken. Sie schreiben alle wie wild, bemüht, kein Wort zu verpassen, das aus M.s Mund kommt. Er trägt eine dunkle Hose mit Bügelfalten, ein blaues Nadelstreifenhemd und ein Tweedjackett, das sich keiner der anderen Männer im Raum leisten könnte. Obwohl wir auf ihn hinuntersehen, ist er uns gegenüber im Vorteil. Er hat etwas Imposantes an sich, das uns alle kleiner erscheinen läßt – seine große, aufrechte Gestalt; das dunkle, an den Schläfen ergrauende Haar; die Aura von Wissen, die ihn umgibt, während wir, seine Studenten, noch alles zu lernen haben.
Ich höre ihm zu. Er versteht es, seine Zuhörer zu fesseln. Dabei zieht er überhaupt keine Show ab, schwingt keine flammenden Reden – ganz im Gegenteil, er wirkt ziemlich beherrscht, setzt seine Sprache und seine Gesten sparsam ein –, aber seine Präsenz hat etwas Imponierendes, Gebieterisches, und seine Liebe zur Musik ist in jedem seiner Sätze zu spüren. Er spricht über schöpferische Phantasie und darüber, wie die Epoche der Romantik das Konzept des musikalischen Schöpfers hervorbrachte, eines einsamen, genialen Geistes, der mit seinem überragenden Können und seiner Phantasie ein Kunstwerk erschafft, das seinen Ursprung in einem inneren, befreienden Blitz
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