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Brennende Kontinente

Brennende Kontinente

Titel: Brennende Kontinente Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz
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einen war sie eine Heilige, für die anderen die Schuldige eines Untergangs. Und sie selbst fühlte sich rettungslos durcheinander, verloren, zerrissen.
    Estra lief und lief, trat achtlos in Pfützen und Unrat.
    Sie spürte etwas in sich, eine stärkere Macht, die ihr Kräfte verlieh, und dennoch fürchtete sie sich davor, diese Macht einzusetzen. Weil sie die Nachteile erahnte, die daraus erwuchsen. Ihre Mutter war der Macht verfallen gewesen und hatte einen hohen Preis dafür bezahlt. Wie viel durfte sie nutzen, bevor sie dieser Macht vollkommen anheim fiel und es kein Zurück mehr gab? Estra bog um die nächste Ecke ‐ da packte sie jemand an der Kehle und warf sie grob rückwärts auf die nasse Straße.
    Der Aufprall raubte ihr beinahe die Sinne, sie sah nur Sterne und feurige Kreise. Die Klammer um ihren Hals löste sich. »Das Amulett«, raunte eine Stimme. »Gib es mir!«
    »Nein!«, hustete Estra und schlug blindlings um sich. Eine Hitzwelle rollte durch ihren Körper und löste etwas in ihr aus. Nie geahnte Kräfte, stärker als vorher beim Zusammentreffen mit Tokaro, wurden freigesetzt.
    Sie traf etwas Hartes und vernahm ein Stöhnen, gleich darauf wurde sie mit einem Vorschlaghammer oder etwas Vergleichbarem geschlagen.
    Instinktiv hielt sie eine Hand um das Amulett, doch es nützte ihr nichts. Beim zweiten Schlag verlor sie das Bewusstsein.

    Kontinent Ulldart, Königreich Borasgotan, nordöstlich von Amskwa, Frühling im Jahr 2 Ulldrael des Gerechten (461 n.S.)
    Lüun hustete schwer und feucht. Etwas Dickes, Schleimiges steckte in ihrer Kehle, das nach Blut schmeckte. »Die Manen haben uns gewarnt. Wir hörten nicht auf ihre Weisung und müssen nun bezahlen«, schnaufte sie und würgte das Bröckchen heraus.
    »Es liegt nicht an Vahidin.« Sainaa schnitt das Trockenfleisch in dünne Scheiben und warf sie in die köchelnde Brühe. »Es waren seine Leibwächter. Einer von ihnen hatte die Krankheit und brachte sie zu uns.«
    »Unser Volk lebt mit der Natur, mit den Geistern. Hast du jemals ein vergleichbares Fieber oder einen Husten unter uns wüten sehen?« Lüun musste sich setzen, das Leiden hatte sie sehr geschwächt.
    »Deinen Mann, dein Kind, die Hälfte unserer Gemeinschaft haben wir verloren und den Geistern des Feuers übergeben müssen.«
    »Es kann passieren.« Sainaa hackte Tokwurzeln klein und gab sie ebenfalls zum Eintopf.
    »Die Manen sind nicht einverstanden, dass du ihn unterrichtest.« Lüun packte sie am Handgelenk.
    »Sainaa, öffne deine Augen. Nichts an diesem ... dieser Kreatur geht mit rechten Dingen zu. Er kam zu uns als Kind und sieht inzwischen aus wie ein junger Krieger.«
    Sainaa riss sich aus dem Griff der älteren Frau. »Er ist von den Geistern gesegnet. Ein Auserwählter. Und ich bin seine Auserwählte.«
    »Du bist keine Auserwählte, Sainaa. Du bist sein Opfer. Du
    benimmst dich wie eine folgsame Hündin und erfüllst ihm jeden Wunsch.« Sie umrundete das niedrige Bänkchen und kniete sich auf die andere Seite vor die junge Frau. »Die Asche deines Mannes und deines Kindes ist kaum von den Windgeistern verweht, und du teilst das Lager mit ihm. Siehst du es denn nicht, wie er dich verblendet hat?«
    Sainaa nahm die nächste Wurzel und befreite sie mit harten, genauen Schlägen von den ungenießbaren Stellen. Sie hielt inne und schaute Lüun in die Augen. »Du bist eifersüchtig. Auf mich und mein Glück, jemanden wie Vahidin gefunden zu haben.«
    Die Altere schüttelte den Kopf, atmete lange aus und musste wieder husten. »Er wird dein Tod sein, Sainaa. Wir müssen fort von ihm.«
    »Nein.«
    »Dein Vater war der Tsagaan unserer Gemeinschaft, und auch er ist...«
    Das Beil schlug mit Wucht in das Holzbrettchen. »Nein!«, wiederholte Sainaa endgültig. »Ich bleibe bei ihm.« Ihre Fingerknöchel waren weiß, sie umklammerte den Griff des Beils und beherrschte sich. Diese zermürbenden Anfeindungen wollten nicht enden. Sie warf das Beil hin und verließ das Zelt.
    »Rühr um«, sagte sie zum Abschied.
    Sainaa eilte quer durch das Lager und steuerte auf das Zelt zu, in dem sich Vahidin niedergelassen hatte. Es war ihr eigenes Zelt, der junge Mann lebte bei ihr, aß und schlief mit ihr. Und es war besser als das, was sie bislang mit einem Mann erlebt hatte. Er gab der Vollkommenheit eine Gestalt. Sie betrat ihr Zuhause. Vahidin saß mit nacktem Oberkörper im Schneidersitz vor dem Feuer, aus dem dichter Qualm stieg. Es roch würzig, nach Tannenadeln, Harz, Eicheln und

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