Brennende Schuld
du das?«, flüsterte er zurück.
»Habe ich in dem Artikel über die Ausgrabungen gesehen. Deine Freundin hat da eine Menge Abbildungen präsentiert. Nur das hier«, sie kratzte etwas von der Oberfläche ab und drehte es zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen, »ist wohl neueren Datums.« Sie schnupperte an dem Stein und einem der Knochen. »Das ist Paraffin. Die armen Leute sind hier verbrannt worden.«
»Vor zweitausend Jahren oder vorgestern?«
Sie zog ein zweifelndes Gesicht und roch noch einmal an dem Stein. »Eher vorgestern. Aber das wird für den Surfer und Torres nicht lange ein Geheimnis bleiben.«
Eine Sekte, die Menschen opferte? Welcher Gott oder welches Wesen sollte damit geehrt werden?
Er leuchtete den Stein ab und sah, dass auf dem Vlies eine Reihe von Buchstaben zu sehen war, aufgemalt mit brauner Fingerfarbe: immer wieder die gleichen Buchstaben, m-o-l-k, die sich rundherum wiederholten.
Elena kniete neben ihm. »Das ist mit Blut geschrieben.«
Seine Hand hatte etwas ertastet. Er hätte es in der rauchgeschwärzten Kuhle des Altars nicht sehen können – ein steinernes Amulett, nicht viel größer als ein Päckchen Streichhölzer. Was es genau darstellte, konnte er im Moment nicht erkennen. Es war eine Libelle, ein Insekt mit großen Flügeln, oder ein Vogel.
»Es wurden Werkzeuge und Zement benutzt, um einen hermetisch abgeschlossenen Raum zu bauen«, sagte Elena. »Irgendwo muss es einen gut versteckten Zugang von der Landseite aus geben.«
»Die Fledermäuse kennen ihn.«
»Was ist der Sinn? Warum hier in der Höhle und nicht irgendwo in einer abgelegenen Finca?«
»Die Verbindung zum Meer vielleicht.«
Sie nickte. »Könnte sein.«
Ein Geräusch unterbrach ihre getuschelte Unterhaltung. Regungslos lauschten sie. Als ob eine unsichtbare Tür geöffnet worden wäre, hörten sie aus der Ferne ein dumpfes Dröhnen. Es wurde lauter und klang wie ein Lastwagen, der durch einen Tunnel rast.
Über ihnen begann eine ungeheure Bewegung. Eine schwarze Welle löste sich von der Decke. Tausende von Flügeln ließen die Luft erzittern »Raus hier!«, schrie Costa.
kapitel neun
Auf der Spitze des Mühlenhügels blieb Costa stehen, um nachzudenken. Sie waren durch den unterirdischen Wasserweg wieder zurück zum Meer getaucht, hatten die Küstenwache benachrichtigt und auf den Surfer gewartet, der begeistert in Costas Tauchanzug stieg, um sich die Höhle anzusehen. Costa und Elena hatten sich am Ufer absetzen lassen und waren die Felsen hinaufgekraxelt, um zu sehen, was über der Höhle lag. Oben angekommen, wandten sie sich noch einmal um. Die Sonne lag gleißend auf dem Meer. Sie waren so hoch, dass die Wellen wie zu Stein erstarrt schienen.
Sie überquerten die Carretera Ramon Muntaner und setzten ihren Weg über eine Geröllstiege fort, bis sie die Carretera de Luci Oculaci an der Steilküste erreichten. Auf der anderen Seite lag ein riesiges, leicht abschüssiges Areal, jetzt braun und verdorrt, im Frühjahr überwuchert von Blumen. Ein verwilderter Park, der in der flimmernden Mittagshitze aussah wie eine riesige Trompe-l’œil-Arbeit, wie man sie in griechischen Restaurants sieht: Säulen, Steinquader, Schafe, Zypressen, Schäfer mit Hund, in der Ferne das Meer. Dicht drängten sich die Häuser an den Maschen- und Stacheldrahtzaun, der dieses Gebiet umgab. Aber nicht der Zaun, sondern eine unsichtbare Macht schien die Häuser davon abzuhalten, von der Natur Besitz zu ergreifen.
Elena hatte Recht gehabt, sie befanden sich außerhalb der Stadtmauer oberhalb des Museums.
»Die Nekropolis der Phönizier«, sagte sie hinter ihm. »Die Stadt der Toten.«
»Ich sehe förmlich den guten El Cubano: Ein alter Friedhof? Von dieser Größe und auf dem teuersten Terrain mitten in der Stadt? Carlos, lass uns da einen Supermarkt hinsetzen.«
Elena grinste.
Er blickte auf das Ausgrabungsfeld, auf dem rechts wie eine Herde Ziegen große, weiße Steine lagen und links eine zum Teil überwachsene Finca. Sie war augenscheinlich nicht mehr bewohnt.
»Auf diesem Gelände hat das neue Wahrzeichen Ibizas – der Baukran – keine Macht«, erklärte sie und nahm für einen Moment die Haare aus dem Nacken, um sie auf dem Kopf festzuhalten. »Die Vereinten Nationen haben es vor kurzem zum Weltkulturerbe der Menschheit erklärt. Es ist die größte phönizische Grabstätte der Welt außerhalb Karthagos. Fünftausend Gruften hat man bisher entdeckt, und je tiefer sie graben, desto mehr werden
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