Brennende Sehnsucht
totgeschlagen, das hat er immerhin nicht getan... auch wenn es Zeiten gab, an denen ich lieber geschlagen worden wäre, als mit dieser eisigen Distanziertheit behandelt zu werden.
Als er mich wieder freiließ, war ich so schrecklich einsam und sehnte mich nach dem kleinsten Zipfelchen Freiheit, dass ich mich ohne große Anstrengung den neuen Benimmregeln des Vikars unterwerfen konnte.«
»Benimmregeln?«
»Oh ja. Ich durfte nur die züchtigsten Kleider tragen. Ich musste mein Haar immer streng frisieren. Ich durfte niemals rennen, laut lachen, mit Fremden sprechen oder überhaupt mit Männern, selbst wenn ich sie seit meiner Geburt kannte. Ich durfte ohne die Begleitung meiner neuen, strengen Zofe nirgendwohin – zum Glück hat sie es abgelehnt, mit nach London zu kommen.
Warte, es gab noch mehr Regeln, ich durfte nicht zu schnell kauen oder um Nachschlag bitten. Ich durfte das Haus nur verlassen, um meinen häuslichen Pflichten nachzukommen, denn im Grunde war ich die Haushälterin und durfte höchstens in Begleitung des Vikars in die Kirche gehen. Ich durfte meine Meinung nicht sagen oder um Süßigkeiten bitten, durfte mich nicht beschweren oder – ich glaube, du weißt jetzt ungefähr Bescheid.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gutging. Du bist nicht so unterwürfig.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das verstehst du nicht. Ich habe alles gemacht. Ich habe mich mit Haut und Haaren dazu verschrieben, die neue Miss Phoebe Millbury zu werden, die perfekte Tochter und Dame. Es war nicht einmal schwierig. Ich musste nur die alte Phoebe töten.«
Sie fuhr mit den Fingerspitzen über seine Brust. »Zumindest hielt ich sie für tot, aber vielleicht hat sie nur geschlafen, bis zu jener Nacht im Mondschein, als du sie aufgeweckt hast.«
Er fing ihre Hand ein und verschränkte seine Finger mit ihren. »Du bist nicht die Einzige, die in jener Nacht aufgewacht ist.«
Sie seufzte glücklich. »Oh, gut. Ich hatte gehofft, du würdest auch reden. Ich will mich zurücklehnen und jetzt deiner Geschichte zuhören.««
Er legte den Kopf aufs Kissen und schaute hinauf auf die Risse in der Decke. »Meine Geschichte... also, auch meine Mutter ist gestorben, als ich noch ziemlich jung war. Ich war acht, als Brookhaven kam, um mich zu holen. Ich wusste, dass mein Vater irgendjemand Bedeutendes war, aber ich hatte ihn vor diesem Tag noch nie gesehen. Ich möchte gerne denken, dass er meine Mutter wirklich gemocht hat, dass ich nicht das Ergebnis reiner Lust war, aber das werde ich wohl nie genau wissen. Lady Brookhaven, Calders Mutter, lebte woanders. Wir haben sie selten gesehen. Sie schien sich nichts aus meiner Existenz zu machen, weder im Guten noch im Schlechten. Ein paar Jahre später ist sie gestorben, aber ich bin mir nicht sicher, ob es Calder überhaupt aufgefallen ist. Er war ganz und gar der Sohn seines Vaters.«
Phoebe nickte an seiner Brust. »Der Erbe.«
»Natürlich. Unser ganzes Leben lang war immer Calder der Erste. Der Erste bei Tisch, wenn es Abendessen gab, der Erste, der sein eigenes Vollblut bekam, der Erste an der Seite unseres Vaters, als es darum ging, alles über den Besitz und das Erbe der Marbrooks zu lernen.«
»Was war mit deinem Vater? Hast du gedacht, er zieht dir Calder vor?«
Rafe zuckte die Achseln. »Ich dachte nur daran, dass Calder
der Feind ist. Unser Vater war das, worum wir kämpften. Da Calder der Erste war, wenn es um Brookhaven ging, übernahm ich die anderen ersten Plätze.« Er stieß den Atem aus. »Jetzt kommt der schwere Teil.«
Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen. »Willst du mir etwa sagen, dass du keine Jungfrau mehr bist?«
Er lachte und gab ihr einen kleinen Schubs. »Mach dich nicht über mich lustig. Ich hab’s auch nicht getan, als du mit Erzählen dran warst.«
Sie küsste entschuldigend seine Brust.
Er fuhr fort. »Ich vergnügte mich als Erster mit einem der willigen, kichernden Zimmermädchen, raufte mich als Erster mit den stämmigen Söhnen des Schmiedes, trank als Erster so viel aus dem Weinkeller gestohlenen Wein, dass ich besinnungslos wurde. Als Erster wurde ich von den besseren Schulen verwiesen, hatte als Erster eine verheiratete Frau als Geliebte, war als Erster eine Schlagzeile in den Klatschspalten.«
»Und dein Vater? Hat er bemerkt, wie große Mühe du dir mit all dem gegeben hast?«
Er lächelte. »Gewiss. Er schämte sich für mich. Ich war ein Fleck auf der weißen Weste der Familie. Ich war auf dem besten Weg, Brookhaven mit meinen
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