Brennende Sehnsucht
deutschen Märchen.«
Offen gestanden wollte Phoebe lieber mit der Stirn gegen den Fußboden schlagen, als irgendeinen trockenen Text zu lesen, aber wenn die Alternative ein früher Tod durch Tessas gehässige Hände war...
Sie setzte sich und beugte sich vor, um einen Blick auf das Blatt zu werfen, das ihr am nächsten lag. »Wird es lange dauern?«
»Oh!« Sophie war voller Eifer und freudiger Erwartung. »Du wirst es lieben, das verspreche ich dir!« Sie nahm das Blatt, das Phoebe misstrauisch beäugt hatte. »Das hier ist eine meiner Lieblingsgeschichten. Sie ist wirklich ziemlich romantisch.« Sie zögerte, als wartete sie darauf, dass Deirdre sich über sie lustig machte, aber die hörte aufmerksam genug zu. Offenbar war jede Form der Ablenkung besser als eine Begegnung mit Tessa.
Sophie räusperte sich und atmete tief durch. »Es waren einmal ein König und eine Königin, die wünschten sich nichts sehnlicher als ein Kind. Aber sie bekamen keins. Als die Königin eines Tages ein Bad nahm, hüpfte ein Frosch ans Ufer des Teiches und sagte zu ihr: ›Königin, Euer Wunsch wird in Erfüllung gehen. Bevor das Jahr um ist, werdet Ihr eine Tochter zur Welt bringen.‹«
Deirdre schnaubte. »Ein Frosch? Ein sprechender Frosch, der Wünsche erfüllt?«
Phoebe drehte sich gereizt nach ihr um. »Sei still! Oder ich erzähle Tessa, dass du auf dem Sofa liegst und dein Kleid zerknautschst.«
Deirdre zuckte zusammen. »Ist ja schon gut.«
Sophie warf Phoebe einen dankbaren Blick zu und atmete wieder tief durch. Ihre Stimme war jetzt fester geworden, sicherer. »Die Vorhersage des Frosches traf ein, und die Königin brachte ein Mädchen zur Welt, das so schön war, dass der König überglücklich beschloss, ein großes Fest zu geben. Er lud all seine Verwandten ein, seine Freunde und Bekannten und auch die weisen Frauen seines Königreiches in der Hoffnung, dass diese großzügig und gütig zu seiner Tochter wären.«
Bald fühlte sich Phoebe regelrecht von der Geschichte gefangen, als Sophie sie mit ihrer hellen, melodischen Stimme vorlas, die sehr angenehm war, da sie ihr jetzt andächtig lauschte. Es gab einen Fluch – wie spannend! -, eine böse weise Frau – Besorgnis erregend! – und ein unschuldiges junges Mädchen von fünfzehn Jahren.
Waren wir das nicht alle einmal?
Phoebe schluckte die aufkommenden schlimmen Erinnerungen hinunter und konzentrierte sich auf Sophies Erzählung. Ein Mädchen, das zu einem Zauberschlaf verurteilt war...
Sophie hörte auf vorzulesen und legte das Blatt auf den Tisch.
»Wie?« Deirdre richtete sich auf dem Sofa auf. »Das ist alles? Das kann doch nicht alles sein! Sie bleibt für immer in diesem Schloss eingesperrt? Hinter einer Dornenhecke?«
Auch Phoebe war ziemlich aufgebracht. »Ich kann nicht glauben, dass...«
Sophie schüttelte den Kopf. »Oh, nein. Es geht noch weiter. Ich bin nur noch nicht mit der Übersetzung fertig.«
Phoebe sprang von ihrem Stuhl auf, nahm Sophie bei beiden Schultern und drückte sie nach vorn. »Mach. Fang an. Übersetze.«
»Ja«, fügte Deirdre hinzu. »Übersetze wie der Wind.«
Sophie errötete vor Freude. »Gefällt es euch wirklich? Ich habe daran gedacht, sie binden zu lassen, wenn ich damit fertig bin.«
Deirdre hob eine Hand. »Rede weniger. Arbeite.«
Eine Stunde später, die ihnen schier endlos vorgekommen war, war der nächste Abschnitt fertig. Die glücklose Prinzessin war immer noch gefangen, und inzwischen hatten zahllose junge Verehrer in der Dornenhecke den Tod gefunden.
Deirdre faltete ihr Taschentuch zusammen, um eine trockene Stelle zu finden. »Diese ganzen gut aussehenden Prinzen, welch eine schreckliche Verschwendung.«
Phoebe schniefte. »Die arme Prinzessin... eingesperrt, bestraft bis in alle Ewigkeit.«
Sophie tupfte verzweifelt auf ihren Notizen herum und versuchte ihre eigenen Tränen von dem Papier aufzusaugen, bevor ihre ganze Arbeit ruiniert war. »Diese ganzen Menschen, deren Leben stillsteht.«
Gemeinsam weinten sie bitterlich. Phoebe fühlte sich danach besser, und selbst die reizbare Deirdre schien ihr ein wenig weicher. Sophie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Ich kann nicht mehr. Ich bin erschöpft, und meine Augen brennen.« Sie nahm ihre Brille ab und starrte sie zornig an. »Ich hasse dich.«
»Das solltest du auch«, stimmte Deirdre ihr zu. »Eine Brille schreckt garantiert die Männer ab. Was schon merkwürdig ist, wenn man mal darüber nachdenkt. Die meisten Männer sind doch
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