Brennnesselsommer (German Edition)
sie eingeschlafen und träumt eine wirre Geschichte mit Pferden und Schlangen.
Als sie aufwacht, ist es kühl geworden, sie richtet sich mit einem Ruck auf und rutscht fast aus der Hängematte. Langsam geht sie zum Haus, wo Papa gerade den Gartentisch abschrubbt, und fragt nach Flitzi.
»Die macht bei Fränzi eine Abendrunde«, murmeltPapa, und die Art, wie er das sagt, zeigt Anja, dass er auf Fränzi nicht mehr böse ist. Vielleicht hat er sich sogar an sie gewöhnt.
Fränzi ist wahrscheinlich noch nicht zurück, und Anja läuft hinüber zum Gnadenhof, um Flitzi zu helfen. Es gibt dort jeden Abend eine Menge zu tun: Kaninchen in die Ställe tragen und füttern, den Papagei versorgen, die Hunde über die Felder schicken, das Wasser für die Vögel austauschen, die Ziegen in die Scheune bringen, Ställe verschließen, den Hof fegen, Blumen wässern. Normalerweise macht Fränzi das alles alleine.
Eigentlich hat sie ja auch keinen Beruf, jedenfalls nicht so wie Anjas und Flitzis Eltern. Der Gnadenhof ist ihr Beruf, und die Abendrunde gehört dazu. Flitzi schafft die Abendrunde schon fast allein, aber mit Anja geht es besser.
Als Anja mit Löwenzahnbüscheln in den Händen zu den Ställen läuft, hockt Flitzi zusammengekrümmt neben der Schubkarre und schluchzt.
»Hast du dir wehgetan?«, fragt Anja erschrocken.
»Fränzi ist weg«, weint Flitzi.
»Das wissen wir doch«, sagt Anja beruhigend, »das hat sie uns doch gesagt.«
»Aber es ist schon Abend«, heult Flitzi, »und sie ist schon so lange weg.«
Anja legt ihr die Hand auf die Schulter, wie es sonstMama immer macht. »Die kommt bestimmt gleich. Komm, wir machen alles fertig für sie, dann freut sie sich.«
Schweigend gehen sie wieder an die Arbeit. Ab und zu stehen sie still und lauschen in den Abend, ob sie Fränzis Transporter hören, aber alles bleibt friedlich und still, eine späte Amsel singt, und die Kaninchen raspeln den Löwenzahn weg, als wären sie völlig ausgehungert. Benito und Keno sind nirgends zu sehen, bestimmt sind sie mit Fränzi gefahren, aber Krümel springt wild um sie herum und drängt sich gegen Flitzis Bein. Hunger hat er nicht, er rührt das Futter nicht an, das Flitzi ihm in den Napf füllt. Er schiebt seine Nase unter ihre Hand und will gestreichelt werden.
»Wenn Fränzi nicht zurückkommt, nehmen wir ihn«, sagt Flitzi düster zu Anja und rubbelt Krümel zwischen den Ohren. Allmählich ist Anja auch beklommen zu Mute. Sie sind fertig mit der Arbeit, alle Tiere sind versorgt, der Abend steht dunkel zwischen den Ställen und über den Wiesen. Von hier aus leuchtet ihr Haus wie ein Adventskalender. Das Licht in der Küche brennt heller als die Straßenlaternen, und im Wohnzimmer sehen sie ihren Vater hin und her gehen.
»Komm, wir gehen rüber«, meint Anja, weil ihr nichts Besseres einfällt, »bestimmt gibt es Abendbrot.«
»Vielleicht haben die auf dem Westernhof auch Gewehre«, sagt Flitzi da auf einmal.
Fränzi könnte auch von einem der Pferde gefallen sein, die sie befreien will, oder mit dem Auto in den Graben, oder sie hat sich verfahren, obwohl das sehr unwahrscheinlich ist, oder sie streitet sich den ganzen Abend mit den Pferdequälern. Doch bevor sie sich noch mehr schlimme Sachen ausdenken, bringen sie Krümel hinein, streicheln ihn noch einmal und gehen nach Hause. Auf einmal ist Anja sehr froh, dass sie nicht mit Fränzi in der Dunkelheit um Pferde kämpfen muss, sondern in den warmen Flur kommen, ihre Schuhe ausziehen und sich an den gedeckten Abendbrottisch setzen kann, wo es Milchreis mit Zimt und Zucker gibt. Papa rührt in dem dampfenden Topf und will gerade Flitzis Teller füllen, da bricht Flitzi schon wieder in Tränen aus: »Fränzi ist vielleicht tot, und wir müssen Krümel nehmen, und was machen wir dann mit dem Papagei?«
»Moment«, sagt Mama und gießt Flitzi erst mal einen Kamillentee ein, »wieso soll sie denn tot sein? Heute Morgen sah sie noch ziemlich lebendig aus.«
»Sie ist immer noch nicht wieder da, und es ist doch schon dunkel, und Krümel ist ganz allein.«
»Fränzi kann ja mal einen Abend woanders sein, oder?«, sagt Mama. »Vielleicht trifft sie sich mit jemandem, oder sie geht mal schön essen oder ins Kino.«
»Aber sie hat kein Geld zum Essengehen«, ruft Flitzi, »und hier gibt es auch kein Kino, und sie ist sowieso jeden Abend zu Hause!«
»Woher willst du das denn wissen?«, sagt Papa. »Du weißt doch gar nicht, wie viel Geld sie hat und wo sie sich abends
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