Brennnesselsommer (German Edition)
sauber haben will, kann sie gleich drüben bleiben. Sie breitet den Schlafsack auf der Matratze aus und stellt ihre Hausschuhe vor das Bett. Eine Katze streicht draußen am Fenster vorbei. Anja versucht, sie hereinzulocken, aber sie ist scheu und biegt schnell um die Ecke.
Anja setzt sich auf das Bett und versucht sich vorzustellen, sie wäre Fränzis Tochter. Sicher müsste sie dann nicht in die Schule, und wahrscheinlich hätte sie sehr kräftige Arme vom vielen Arbeiten auf dem Gnadenhof, zwei oder drei eigene Hunde und ein paar Katzen im Zimmer und so wirre Haare wie Fränzi. Sie fährt sich durch die glatten, dünnen Haare, seufzt und läuft hinaus zu Fränzi, die gerade bei den Kaninchen ausmistet. Keno steht gespannt, eine Pfote angehoben, vor dem Gehege und starrt die Kaninchen an.
»Hallo Besuch«, ruft Fränzi, »kannst du mal frisches Heu holen? Da vorne ist die Schubkarre.«
Sie arbeiten eine Weile, bis es anfängt zu nieseln. Anja bringt noch den Mist weg, und Fränzi macht eine große Kanne heißen Tee.
Sie setzen sich an den Küchentisch und legen ihre Hände um die Tassen. Fränzi schaut versonnen aus dem Fenster, und Anja überlegt, woran sie wohl denkt, an die Tiere vielleicht oder an Martin. Sie traut sich nicht zu fragen, obwohl sie Fränzi nun schon ganz gut kennt, und krault stattdessen Benito zwischen den Augen. Benito legt seine Schnauze auf Anjas Bein und sieht aus, als wollte er schnurren.
Es ist ganz still in der Küche, man hört nur weit weg ein Autogeräusch und Benitos leises Schnaufen. Anja bewegt langsam ihre Finger durch Benitos Fell und erschrickt fast, als Fränzi plötzlich sagt: »Weißt du, wie das bei mir zu Hause war, als ich ein Kind war?« Anja schüttelt den Kopf. »Meine Mama und mein Papa waren noch ordentlicher als deine«, sagt Fränzi. »Und wenn in meinem Zimmer Sachen auf dem Boden herumlagen und ich in der Schule miese Noten hatte und Tiere mit nach Hause gebracht habe, Mäuse, kleine Vögel und so, dann gab es einen Ärger, das kannst du dir nicht vorstellen.«
»Bei mir gibt es doch auch Ärger, wenn ich solcheSachen mache.«
»Aber so einen Ärger schaffen deine Eltern gar nicht«, sagt Fränzi. »Bei uns war der Ärger so schlimm, dass sie mich ins Zimmer eingeschlossen haben, bis es so war, wie sie es wollten. Da bin ich dann irgendwann weg. Aber ich hab sie vermisst.«
»Du hast sie vermisst?« Das kann Anja sich kaum vorstellen. »Warum hast du sie denn vermisst, wenn sie so gemein zu dir waren?«
»Das war ja doch mein Zuhause«, sagt Fränzi nachdenklich. Dann schaut sie Anja an und fängt an zu lachen. »Komm, wir machen etwas Lustiges, du siehst so ernst aus!«
Sie greift hinter sich und stellt das alte Radio an, und dann holt sie Kekse und ein paar Spiele und türmt alles auf dem Küchentisch auf. Anja isst so viele Kekse, wie sie will, und sie spielen hintereinander Uno, Scrabble und Quartett, bis ihnen die Augen brennen vor Müdigkeit. Irgendwann geht Anja hinüber in die Kammer und legt sich aufs Bett. Schon im Halbschlaf, muss sie über Fränzis Zuhause nachdenken. Gut, dass ihre Eltern sie nicht einschließen. Im Gegenteil, sie haben sie sogar mit Sack und Pack zu Fränzi ziehen lassen. Kleine Tiere und halb tote Vögel darf Anja zwar auch nicht mit nach Hause bringen, sie muss immer viel zu früh ins Bett und essen darf sie auch nicht, wann und was sie will. Trotzdem vermisst Anja plötzlich Mamas kühle Hand, die ihr jeden Abend noch einmal über das Gesicht streicht. Vielleicht geht sie morgen wieder rüber, um ihren Eltern Gesellschaft zu leisten. Mit diesem Gedanken schläft sie beruhigt ein.
Am nächsten Tag zieht Anja doch erst mal wieder zu Hause ein, wenigstens zum Schlafen. Dafür ist sie jetzt nachmittags noch öfter drüben bei Fränzi.
Seit neuestem gibt es auf dem Gnadenhof nämlich drei Zwergziegen. Sie kommen aus einem Streichelzoo, wo sie sich in einem winzigen, asphaltierten Hof, angekettet an Pflöcken, unter unzähligen streichelnden Kinderhänden duckten. Die kleine kaffeefarbene hat einen kugelrunden Bauch, Flitzi dachte sogar zuerst, sie wäre vielleicht schwanger.
»Alles Luft«, meint Fränzi, »die ist wie ein aufgeblasener Ballon. Bei Ziegen kommt die Luft nicht hinten raus wie bei uns, verstehst du?«
Bei der anderen, einer schokoladenbraunen, sieht man die Rippen unter der straffen Haut, sie muss unbedingt aufgepäppelt werden. Die dritte finden Anja und Flitzi am schönsten, sie ist weiß-braun
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