Brennnesselsommer (German Edition)
sein?«, fragt Mama nach.
»Männer«, sagt Tim, »so Männer, ich konnte nichts erkennen, ich bin dann einfach abgehauen, als Fränzi hingefallen ist, hau ab, hat sie dauernd geschrien. Hätte ich lieber dableiben sollen?« Nun fängt er wirklich zu weinen und noch mehr zu zittern an. Anja setzt sich einfach neben ihn und legt ihm einen Arm um die Schulter, Flitzi holt Schokolade, und die Eltern reden beruhigend auf ihn ein.
Nach einer Weile geht es wieder. Sie versuchen herauszufinden, was passiert ist.
Fränzi und Tim waren zum Westernhof gefahren.
Auf dem Feldweg kurz vor ihrem Ziel hatte sich ein Geländewagen quer gestellt. Ein paar Männer hatten ihnen dort aufgelauert, waren aus dem Auto gesprungen, hatten Fränzi aus dem Wagen gerissen und auf sie eingeschlagen. Keiner hatte Tim bemerkt, der wegrannte, sobald es ging.
»Warum haben sie das gemacht?«, fragt Flitzi weinend. »Ich wusste ja, dass sie tot ist.«
»Sicher ist sie nicht tot«, sagt Papa ärgerlich. »Wir sind doch nicht im Kino, so etwas passiert nicht einfach so. Tim, wo genau wart ihr? Weißt du noch, wie die Orte hießen, durch die ihr gefahren seid?«
»Klar«, sagt Tim und putzt sich die Nase. Anja nimmt gleich den Arm von seiner Schulter. »Simonswald, Hochingen, Dreipflockingen, nach dem Automarkt links.« Die Mutter hält schon das Telefon in der Hand, aber der Vater winkt ab.
»Wir holen sie, wer weiß, was da gelaufen ist.«
»Wir müssen wenigstens einen Krankenwagen anrufen!«
»Wir fahren gleich los«, sagt Papa, »und Tim kommt mit und zeigt den Weg.« Auf einmal ist er sehr entschlossen und auf komische Weise gut gelaunt, obwohl doch etwas Schreckliches passiert ist. Erwachsene sind schon merkwürdig, denkt Anja. Monatelang gibt es nur Ermahnungen und Fränzigemurmel, und auf einmal wollen alle Fränzi retten, als gehörte sie zur Familie. Und dass Tim einfach spät am Abend zitternd im Flur steht, stört auch niemanden. Das ist eigentlich das Beste an der ganzen wilden Geschichte. Schon drängen alle in den Flur und ziehen sich Jacken über, da greift Mama Anja und Flitzi aus dem Getümmel.
»Ihr bleibt hier, das ist viel zu gefährlich. Wer weiß, was da los ist, und es ist viel zu spät. Tim, du kannst bei uns übernachten, wenn du willst.«
Wieder etwas zum Staunen. Übernachtungen gehen sonst nur nach Anmeldung und Vorbesprechen, und auf einmal soll der wildfremde Tim bei ihnen schlafen. Aber er ist schon längst aus der Tür. Er lässt sich nicht einsperren. Es geht ja auch nicht ohne ihn, Papa würde den Weg gar nicht finden. Anja traut sich nicht, einfach hinauszulaufen. Seit sie Fränzi kennt, hat sie schon so oft gegen die Regeln verstoßen, und etwas Angst hat sie, wenn sie ehrlich ist, auch. Außerdem muss ja irgendjemand dableiben und aufpassen, ob Fränzi nicht doch von alleine nach Hause kommt.
Sie sitzen noch eine Weile im Wohnzimmer herum und versuchen eine Runde Fang den Hut, aber als Flitzi zum dritten Mal die Farben verwechselt und Anja jedes Mal, wenn sie dran ist, angestupst werden muss, schickt Mama sie ins Bett.
»Und was ist mit Fränzi?«
»Die ist morgen sicher wieder da, wenn ihr aufwacht.«
»Ich kann aber bestimmt nicht einschlafen!«
»Und wenn Papa und Tim etwas passiert?«
Sie liegen unruhig in ihren Betten, Anja klopft noch einmal an Flitzis Wand, aber die gibt schon keine Antwort mehr, und nach ein paar Minuten fallen auch Anja die Augen zu.
»Und? Ist sie wieder da?«, ruft Anja. Mama nickt. Sie hat gerade die Rollläden hochgezogen. Normalerweise kringelt sich Anja beharrlich unter der Decke zusammen und schnauft unwillig, aber heute setzt sie sich sofort auf. Flitzi kommt schon fertig angezogen ins Zimmer gestürmt, falls sie gleich losmüssen und Fränzi helfen oder Papa befreien.
Aber das brauchen sie nicht.
»Papa ist schon bei der Arbeit, Fränzi in der Klinik«, erklärt Mama.
Flitzi bricht sofort in Tränen aus, weil sie glaubt, dass Fränzi tot ist, so wie sie es die ganze Zeit geahnt hat. Anja schaut Mama entsetzt an und wartet ab, bis sie weiterredet.
»Ihr müsst zur Schule«, drängt Mama. Aber das geht nun wirklich nicht, nicht nach so einer Nacht, und wo ist überhaupt Tim?
»Papa hat ihn zu Martin gebracht«, sagt Mama. Aber Papa kennt doch Martin gar nicht und will nichts mit den Hippies zu tun haben, und woher weiß er, wo Martin wohnt? Mama muss die Gedanken ordnen, erst ihre eigenen, dann Anjas und Flitzis.
»Also: Sie sind zu der Stelle gefahren,
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