Brennnesselsommer (German Edition)
an der Tim gestern Abend weggelaufen ist. Aber da war kein Geländewagen mehr, nur Fränzis Transporter. Der stand schräg an der Böschung, und ein paar Meter weiter lag Fränzi. Nein, Flitzi, sie ist nicht tot. Aber auf jeden Fall ist sie verletzt, und Papa und Tim haben sie ins Krankenhaus gebracht, und da ist sie jetzt.«
»Wir gehen sie sofort besuchen«, sagt Flitzi.
»Nach der Schule«, sagt Mama. »Dann könnt ihr hin, da geht es ihr sicher schon besser.«
Flitzi will immer noch mehr wissen, wie viel besser es ihr gehen wird, wie schlecht es ihr gestern ging, ob sie geblutet, geweint oder geschimpft hat, ob die Männer, die sie verprügelt haben, im Gefängnis sind, und vor allem, wo die Pferde geblieben sind. Als Mama zugibt, dass sie nicht mehr weiß, will Flitzi sofort alles herausbekommen, vielleicht als Detektiv. Aber Anja hat keine Lust auf solche Spiele. Sie merkt, dass sie seit gestern nicht aufgehört hat, Angst zu haben: um Fränzi, um Tim, um den Gnadenhof. Über Nacht ging die Angst wahrscheinlich heimlich weiter, verpackt im Schlaf. Und jetzt ertränkt Anja sie im Zitronentee, den Mama auf den Tisch stellt, und geht erst mal in aller Ruhe zur Schule, bevor es wieder losgeht mitdiesem Fränzitrubel. Das sagt sie auch zu Flitzi, die hin und her tänzelt und gleichzeitig lacht und heult, weilFränzi nicht tot, aber krank ist und außerdem gerettet, aber die Pferde nicht, jedenfalls kann sie von hier aus keine erkennen.
Sie will gleich rüber und im Stall nachschauen, aber Mama bleibt stur und schickt sie in die Schule, auch wenn sie sowieso zu spät kommen und es sich eigentlich nicht mehr richtig lohnt. Flitzi ist wie Papa merkwürdig gut gelaunt, wenn etwas Aufregendes passiert. Aber bei Anja fühlt sich die Aufregung an, als würde der Bach hinterm Gnadenhof sie mitreißen und bis nach Holland ins Meer schwemmen.
Anja will nirgendwo hingeschwemmt werden, sie will einfach, dass alles so ist wie immer, dass sie morgens zur Schule geht und nach dem Mittagessen Hausaufgaben macht und dann zu Fränzi rüber, und ob da Pferde sind oder nicht, ist ihr egal. Fränzi soll einfach im Hof herumfuhrwerken, mit ihren kniehohen Gummistiefeln und ihren filzigen Haaren, und kurz hochschauen, wenn Anja und Flitzi zu den Tiergehegen hinüberlaufen. Wenn sie kalte Hände kriegen, macht Fränzi Waffeln und heißen Apfelsaft. Und dass Fränzi wenig sagt und manchmal seltsame Ideen hat, stört gar nicht. Ab und zu kann ein neues Tier hinzukommen, von ihr aus auch ein paar zottelhaarige Freunde, vor allem, wenn sie Söhne haben, die Pfannkuchen in die Luft werfen können. Das reicht Anja völlig, ansonsten ist alles gut so, wie es ist, oder jedenfalls dachte sie das bisher.
Aber wenn nun Leute den Gnadenhof schließen wollen und Fränzi mitten in der Nacht von wildfremden Kerlen verprügelt wird und ihre eigenen Eltern Fränzi retten, anstatt dass Fränzi arme Tiere rettet, dann ist alles ziemlich durcheinandergeraten.
Am Nachmittag besuchen Anja, Flitzi und Mama Fränzi in der Klinik. Still und bang gehen sie durch die leeren weißen Gänge mit den quietschenden Fußböden, bis sie vor einem Zimmer stehen, in dem Fränzi liegen soll. Auf dem Schild neben der Tür stehen zwei Namen, die sie beide nicht kennen.
»F. Baldow, das wird Fränzi sein«, sagt Mama und klopft entschlossen an die Tür. Sie stecken den Kopf um die Ecke und sehen Fränzi erst gar nicht. Sie liegt im hinteren Bett und ist so blass, als hätte sie sich mit Flitzis Clownschminke angemalt.
»Fränzi«, schreit Flitzi, stößt fast die Weintrauben von Fränzis Zimmernachbarin herunter, die auf einem Metalltischchen kunstvoll aufgeschichtet sind, und drängt sich zu Fränzi durch. Es tut so gut, sie dort liegen zu sehen, auch wenn sie fast nichts sagt. Sie lächelt kurz, als sie ihr einen Blumenstrauß aufs Bett legen, und flüstert: »Richtige Blumen, aus dem Blumenladen?«
Dann bittet Fränzi Mama noch, Martin anzurufen, damit er sich um den Gnadenhof kümmert, bis sie wieder bei Kräften ist. Sie zwinkert Anja und Flitzi zu und schließt dann gleich wieder die Augen.
Das ist ein seltsamer Anblick, die blasse Fränzi in einem hässlichen hellgrünen Nachthemd in den leuchtend weißen Kissen. Anja überlegt, wo Fränzis dreckige Stiefel wohl geblieben sind, sie sind nirgends zu sehen. Flitzi ist schon wieder den Tränen nah, nur das Augenzwinkern hat sie etwas beruhigt.
»Fränzi hat eine Gehirnerschütterung. Das ist kein
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