Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
Freund.«
Die PYD nutzte ihre Chance, drängte andere kurdische Parteien an den Rand und baute ihre Kontrolle über Syrisch-kurdistan systematisch aus. Sie besetzte die Verwaltung der Städte mit Parteianhängern und richtete einen eigenen Polizeidienst ein. Sie machte so diesen Teil Syriens, der an die Türkei und den kurdischen Teil des Irak grenzt, zu einem sicheren Rückzugsgebiet der PKK, sehr zum Zorn des türkischen Militärs. Auch das war die Absicht Assads, nämlich seinen ehemaligen Bodrumer Kumpel in Bedrängnis zu bringen. Von der Macht der PYD in diesem Teil Syriens hatten wir uns bei unserem Besuch im September 2012 überzeugen können:
An einem heißen Sommertag im September 2012 waren wir, mein Kameramann Jürgen Killenberger und ich, von Erbil im irakischen Kurdistan zur syrischen Grenze gefahren. Unsere erste Begegnung damals kurz vor der Demarkationslinie waren Flüchtlinge, die gerade die Grenze überquert hatten. Alte Leute, junge Männer und Frauen, Kinder, alle schwer bepackt. Kurdische Peschmergas, die an der irakischen Grenzstation herumhingen, ließen sie passieren. Neben der irakischen Fahne hing über dem Posten auch die kurdische träge in der Mittagshitze. Die Peschmergas waren eingeweiht in unseren Plan, illegal nach Syrien einzureisen, sie begleiteten uns sogar, bis wir syrisches Gebiet erreicht hatten. Von einer syrischen Grenzpatrouille war nichts zu sehen. Auf der anderen Seite erwartete uns ein junger syrischer Kurde, er wird uns die nächsten Tage begleiten als Schutz vor den Geheimdienstlern Assads, die es hier noch geben soll, aber auch als Aufpasser. Während wir unser Gepäck über Sanddünen schleppen, kommen uns wieder Flüchtlinge entgegen. Eine Familie, die in großen Koffern und Säcken ihre Habseligkeiten transportiert. Bis zu 500 Syrer flohen damals täglich allein über diesen Grenzabschnitt in den Irak, darunter viele junge, die weder zur Armee eingezogen werden noch sich den Rebellen anschließen wollen.
Nach einer Stunde Fahrt durch die Ölfelder erreichen wir Derika – 50 000 Einwohner, fast alle Kurden. Ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Literatur – alles Kurdische war in der Vergangenheit verboten, unter dem Assad-Sohn genauso wie auch unter dessen Vater. Die bis dahin verweigerte Staatsbürgerschaft war für den Sohn plötzlich kein Thema mehr. Im Frühjahr 2012 versprach er die Ausstellung von Pässen, um sich so die PYD gewogen zu machen. In den Straßen von Derika ist der syrische Präsident immer noch präsent, wenn auch nur als großes Wandgemälde. Sein Geheimdienst ebenso, aber real. Unsere Begleiter warnen uns immer wieder, nicht zu lange an einem Ort stehenzubleiben: »Sonst erregt Ihr Verdacht.« Spitzel und Verräter, die gäbe es schließlich immer noch.
Neben den alten langsam verblassenden Assadbildern sind ganz neue Großposter aufgehängt in frischen Farben. Sie zeigen den Kopf eines anderen Politikers, das Porträt von Abdukkah Öcalan, unübersehbar. Außerdem an jeder Straßenkreuzung die Fahnen der PYD: grün, rot, gelb. Diese Demonstration soll sagen: Dies ist Öcalanland. Hier ist die PKK zu Hause.
Bei einer Familie werden wir für die nächsten Nächte einquartiert, natürlich glühende Anhänger Öcalans, das Idol aller PYD-Anhänger. Vor anderthalb Monaten war die Familie Ali aus Damaskus in ihre kurdische Heimat zurückgekehrt. Sie leben in einem Rohbau. Zu mehr reicht es nicht. Aber sie fühlen sich in Sicherheit:
»Hier sind wir mit unseren eigenen Leuten zusammen, alles Kurden. Hier gibt es keinen Krieg wie in Damaskus«, erklärt uns Dahab Deham Ali, der Vater der Familie. Und seine Tochter, Rojamin Deham Ali, eine ausgebildete Lehrerin: »Hier ist es friedlicher. Und ich kann Unterricht in Kurdisch geben.«
Als Kurdischlehrerin gibt sie in einer Schule jeden Abend Unterricht. Ihre Schüler sind junge Kurden, die die Sprache nie lernen durften und Alte, die die Sprache immer nur heimlich sprechen durften und daher viel verlernt haben.
Am nächsten Morgen nimmt uns Vater Dahab mit zu einem sogenannten Volksgericht, in dem er als Beisitzer arbeitet. Auch in diesem Gericht gibt es ein riesengroßes Porträt des in der Türkei einsitzenden PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Vom Westen wird er als Terrorist eingestuft, von Kurden fast wie ein Heiliger verehrt. In seinem Namen haben die Kurden solche Gerichte gegründet, Volksgerichte, in denen Laien wie Vater Dahab Recht sprechen. Meist geht es um kleinere Fälle. Gott sei Dank; denn
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