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Brenntage - Roman

Brenntage - Roman

Titel: Brenntage - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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irren, sie schrieb ausdrücklich, dass ich längst alles Wesentliche über das Leben (und den Tod) wüsste, ich müsse nur in mich gehen und mich an alles erinnern. Ich weiß, meine Mutter nahm an, dass wir in der Schule und überhaupt nur ganz selten etwas Neues lernten,
der Mensch weiß alles, die Schule bringt bestenfalls etwas davon ans Tageslicht,
schrieb sie, die Schule war so gesehen bestenfalls ein Ort der Eselsbrücken. Ich glaube, mein Onkel wusste nahezu alles, auch wenn er nicht darüber reden wollte und vieles für sich behielt, er behauptete etwa, dass es gar keine Unschuldigen gäbe, nicht einmal vor Kindern mache das Leben halt, und die Entscheidungen, die sie allein treffen, bestimmen fortan darüber, wer sie sind. Über vieles sprach man auch nicht, weil im «Ausgesprochenen» Gefahren lagen,die Worte verloren schnell an Bedeutung (oder bekamen eine gänzlich andere), sie halfen zuletzt niemandem, sich zu bessern oder sich an Schönes zu erinnern, ganz im Gegenteil.
    Als Kind dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, ewig zu leben, dass ich (ähnlich wie mein Onkel) alles wissen würde, dass ich darüber schweigen müsste, um die Menschen in meiner Gegend nicht allzu sehr zu verwirren. Ich stellte mir vor, wie schön es doch wäre, diese Erfahrung mit anderen zu teilen, weil man sonst eine verlorene Seele blieb, einsam und fern aller guter Gedanken. Ich lernte, mich zu beherrschen … Wenn die frechen Kinder gegen die guten wetterten, wusste ich selbst nie, für wen ich eigentlich hätte Partei ergreifen sollen, auf dem Papier schien zwar alles klar, wenn man allerdings kurz darüber nachdachte, dann schon nicht mehr. Ich lernte, mich auch dann zu beherrschen, wenn Tiere gegen die Menschen rannten (was äußerst selten vorkam) und sich blutige Köpfe holten, manchmal musste man vielleicht auch mit dem Kopf durch die Wand, um endlich etwas einzusehen.
    Der Onkel brachte mir sogar bei, fünf Minuten lang die Luft anzuhalten, er hielt es für eine hervorragende Idee, es könnte sich bestimmt eines Tages als nützlich erweisen, mich tot zu stellen. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, sich ein paar Tage nicht mehr zu rühren, dass man wahre Körperbeherrschung bräuchte und eine starke Motivation, dass es aber gewiss möglich wäre und man damit durchkäme. Manche Käfer taten das längst, sogar Schlangen und Vögel griffen zu dieser List, und gewisse Schlangenarten bissen sich tatsächlich in die Zungen, um (täuschend echt)etwas Blut aus dem halb offenen Mund tropfen zu lassen … nicht mehr als ein Trugbild, dem ihre Feinde (und Opfer) Glauben schenkten.
    Ich stellte mir vor, wie mich Soldaten eines Tages im Wald fanden, mit blutigen Lippen und starren Klauen und (scheinbar) keinem Hauch von Leben, dass sie sich fragen würden, wie ich umgekommen sei und warum, ob ihnen ein ähnliches Schicksal drohe und was sie dagegen tun könnten. Vielleicht würden sie einfach in Panik verfallen, sich ängstlich umsehen und Späher aussenden, sie würden keine Beeren mehr essen und kein Waldwasser trinken (aus Angst, sich zu vergiften), sie würden, käme ihnen irgendwer zufällig unter die Finger, diesem vorsichtshalber den Hals umdrehen.
    Mit den Soldaten war nicht zu spaßen, man konnte mit ihnen schließlich stundenlang den Wald erkunden, ohne an sein Zuhause zu denken, wir versuchten dann, die Welt mit ihren Augen zu sehen, und erkannten allerlei … und uns mitunter nicht mehr. Der Onkel erzählte mir, dass die Menschen für gewöhnlich in unterschiedlichen Welten leben, Mutter und Tante sogar an einem noch viel entfernteren Ort, und wir (er und ich) leben bisweilen in einer frei erfundenen Welt, Schall und Rauch.
Immer ist alles möglich
, sagte der Onkel,
immer ist ein jeder verdammt, weder Geister noch Menschen waren jemals glücklich.
    Früher lasen mir der Onkel und die Tante immerzu die Briefe meiner Mutter vor, doch später gehörten sie mir allein, sie waren Zeugnisse meiner eigenen Bedeutungslosigkeit, sie waren mir allerdings lieb und teuer, mein eigenes,unbestechliches Gedächtnis. Wenn mir der Onkel und die Tante vorlasen, ließen oder sparten sie manches aus, weil sie fanden, ich wäre nicht reif genug, es sei angeblich noch viel zu früh für manche Themen, und ich solle etwas Geduld aufbringen. Ich gewöhnte mir bald an, mir selbst alles (laut) vorzulesen, weil mir die Bedeutung (also meine Bedeutungslosigkeit und all die Zusammenhänge) langsam klarer wurde. Ich lief durch die Siedlung

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