Brenntage - Roman
und las alle Straßennamen und Aufschriften, jeden Papierfetzen beäugte ich, Zeitungsschlagzeilen, Beipackzettel, vom Wind angespülte Flugblätter mit unverständlich scheinenden Parolen. Diese wirbelten manchmal durch die Luft, verharrten oder wehten in Zeitlupe an mir vorbei, sogar ihre Parolen hinterließen Spuren in meinem aufgewühlten Gedächtnis: Räder müssen rollen für den Sieg! Wofür sind sie gestorben? Fürchtet den Sturm aus Staub und Dreck! So braun wie Scheiße, wacht endlich auf! Ihr könnt mich nicht, wenn ich nicht will … und so weiter.
Nach dem Tod der Tante las ich dem Onkel gerne selbst etwas vor (die Tante tat dies früher auch), er saß im Wohnzimmer und reinigte unterdessen seine Pfeifenköpfe und Gewehrverschlüsse, ich selbst fühlte mich wie ein Nachrichtensprecher, und es kam vor, dass ich Sachverhalte mutwillig verfälschte, der Onkel jedoch nichts davon bemerkte (ich glaube nicht, dass ich das von der Tante hatte). Ich las und wurde älter, die Haare wuchsen und ergrauten, und irgendwann meinte ich sogar, Bartstoppeln zu verspüren, doch dann war ich wieder nur ein Kind.
Eines Tages nahm mich der Onkel zu einem der nahen Weiher mit, er trug das Gewehr in seiner linken Hand, undmit der Rechten bahnte er uns einen Weg durchs Unterholz … Beeren, Brombeerranken, die sich bei jedem Schritt zu uns gesellten, die mit ihren Dornen unsere Waden und Schenkel malträtierten, aber nur selten floss wirklich Blut. Mit einem der langen Küchenmesser schnitt ich mir unlängst den Daumen auf, und als kein Blut hervorquoll, lief ich zum Onkel und zeigte ihm die Wunde, aber er meinte, dass es Mönche und Fakire gab, die ihren Blutkreislauf auch im Griff hatten. Ich war einen Augenblick lang versucht, mir die Klinge ins Herz zu rammen, nur um zu sehen, ob ich den Mönchen und Fakiren nicht sogar ein wenig voraus war, ließ es dann aber lieber bleiben.
Lange Zeit wusste ich nicht, dass der Onkel ein Gewehr besaß, es lag seit jeher im Wohnzimmer achtlos in einer Ecke herum, und nur, wenn es der Onkel zur Hand nahm, bekam es seine ursprüngliche Bedeutung. Ich dachte früher, Gewehre seien etwas Bedeutsames, weil sie sich so gut zu verstellen wussten, sie zwinkerten mir lange Zeit sorglos aus der Ferne zu und flüsterten: Weder Menschenlob noch Menschenfurcht …
Wir gelangten ans Ufer des Weihers, allerlei Getier im Schlepptau, das uns umschwirrte, es war kurz vor einem Wolkenbruch, die Luft roch nach Regen, und die Insekten schwärmten tief. Im Wasser wimmelten Flossen und Froschschenkel, sie zogen behände Mücken und unachtsam gewordene Libellen unter die Wasseroberfläche, die Wasserspannung ließ scheinbar für einen kurzen Augenblick nach, und mir schien es, als würde die Schwerkraft ausgehebelt. Ich stellte mir vor, wie plötzlich der Boden nachgab, dass man an jedem beliebigen Punkt der Welt imBoden versinken konnte (nicht vor Scham) und nie wieder gefunden wurde. Der Onkel erklärte mir, die Wasserspannung sei ein physikalisches Phänomen, und man könne Wasserläufer zum Sinken bringen, wenn man etwas Geschirrspülmittel ins Wasser träufele,
ein paar Tropfen mit Zitrusgeschmack,
sagte der Onkel.
Lange Zeit wusste ich nicht, wie Wasserläufer hießen, ich schaute ihnen zu und überlegte, welchen Sinn wohl ihre gleitenden Bewegungen haben mussten. Eines der älteren Mädchen, das manchmal mit uns durch die Wälder zog, sprach von den
Wasserholern
… Sie versicherte mir, dass die unscheinbaren Geschöpfe das Wasser der Weiher und Tümpel zusammenhielten, und sobald welches abhandenkam, holten sie es aus irgendwelchen verborgenen Kammern.
Der Onkel lud das Gewehr und schob es mir unter die Armbeuge, ich solle es gegen die Schulter pressen, mir ein Ziel suchen und den Abzug krümmen,
du bist alt genug, allein die Briefe deiner Mutter zu lesen, also bist du kein Kind mehr
, sagte er. Das Gewehr schmiegte sich an meine Schulter,
man muss Körperkontakt halten zu den Dingen, damit sie einem gute Dienste tun,
behauptete der Onkel immerzu, und ich erinnerte mich, dies schon einmal gehört zu haben, dass Paketzusteller und fahrende Händler in fernen Ländern immer auf Tuchfühlung zu ihren Gütern bleiben, um sicher (gemeinsam) anzukommen. Körperkontakt ist eine Lebenseinstellung, las ich in einer alten Zeitung, die das Leben indischer Männer beschrieb, deren Lebenssinn darin bestand, Botendienste zu leisten und niemals ihre Sendung aus den Augen zu lassen. Sie würden sonst ihre Ehre
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