Brenntage - Roman
Hindernis für Mensch und Tier darstellten, nicht mehr und auch nicht weniger.
Damals lief ich mit ein paar älteren Kindern auf die Berge zu, wir nahmen uns vor, erst dann umzukehren, wenn wir ihre Talsohlen erreicht hatten, und einige wollten sogar hochklettern und bis zu den Gipfeln steigen, denn schon immer wollten wir wissen, was sich dahinter verbarg. Tage zuvor hatten wir aus diversen Ranken und Schlingpflanzen grüne Seile geflochten, alle halfen mit, und einige durften sie sogar testen, wir befestigten sie zwischen den Bäumen und kletterten sorglos herum, die Seile hielten und wurden mitgenommen. Später erzählte man mir in der Siedlung, ich sei eine ganze Woche verschwunden gewesen, doch weiß ich genau, nach einem Tag hatten wir die Berge erreicht,und als es nicht dunkel wurde, stiegen einige Beherzte mithilfe der Seile immer höher und höher, bis sie schließlich aus meinem Sichtfeld verschwunden waren. Mir war es nicht gestattet worden, mitzuklettern, weil ich damals angeblich noch viel zu jung war, und die älteren Kinder meinten, so ein halber Meter wie ich eigne sich vielleicht, um Schmiere zu stehen, doch hätte ich bestimmt nicht die Kraft, um es mit den Bergtrassen aufzunehmen.
Ich wartete ein paar Stunden, und als sich niemand zeigte, lief ich zurück in die Siedlung, um mit dem Onkel keinen Ärger zu bekommen. Einige Frauen eilten mir entgegen, sie wollten wissen, wo die anderen Kinder abgeblieben waren, und ich konnte ihnen darauf keine Antwort geben. Als nach weiteren Tagen keiner zurückkehrte, beschloss man, sie auf eine
Vermisstenliste
zu setzen, und so erfuhr ich überhaupt erst, dass eine Vermisstenliste in unserer Siedlung existierte. Sie enthielt viele Namen, die ich noch nie gehört hatte, und der Onkel meinte nur, wenn ich so weitermache wie bisher, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis mein Name ebenfalls auf der Liste aufscheine, ich sei dann für die Siedlung verloren. Damals interessierte es mich noch brennend, wo die anderen Kinder abgeblieben waren, ob es ihnen gelungen war, sich bis zu den Berggipfeln vorzuarbeiten, ob sie gesehen hätten, was sich dahinter verbarg, ob sie eine neue Welt betraten und alle Mühsal hinter sich ließen. Was wohl jenseits der Berge auf sie wartet, wollte ich vom Onkel wissen, und er sah mich lange und eindringlich an, bevor er antwortete …
bestimmt noch andere Berge und noch mehr davon und danach der Tod.
Dass der Onkel (als er jung war) selbst die Berge bestiegen hatte, davon erzählte mir eine der greisen Nachbarinnen, die ein paar Häuser weiter in unserer Straße lebte, mit dem Onkel sprach sie schon seit Jahren kein einziges Wort.
Damals war deine Tante noch kein Thema, er hatte nur Augen für mich,
sagte sie, doch ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass sich der Onkel jemals für irgendeine andere Frau interessiert hätte. Ich erfuhr allerdings, dass er eines Tages in die Berge aufbrach, um alles über die Welt in Erfahrung zu bringen, er hätte allerlei Gipfel bezwungen, sich mit der Kraft seiner Hände durch Steinwände gekämpft, jeden Abend ein Signalfeuer entzündet, das man in der Siedlung (wenn die Sicht halbwegs klar war) erkennen konnte, doch mit der Zeit waren die Feuer kleiner und kleiner geworden (je höher der Onkel gestiegen war), und bald schon konnte man gar nichts mehr erkennen, nur noch die dunklen Umrisse der Felsen, man lauschte dem Heulen des Windes, von Leuchtfeuern keine Spur.
Alle dachten, dein Onkel wäre in einem der Felszwinger umgekommen,
sagte die Nachbarin,
niemand glaubte noch daran, dass er je zurückkehren würde
, und fast hätten sie ihn auch in den Tagen und Wochen, die er fernblieb, vergessen, bis er unversehens eines Tages die Straße entlangschritt, das alte Haus (unser Haus war also damals schon alt) am Rande der Siedlung bezog und die Tante zur Frau nahm.
Ich glaube nicht, dass dein Onkel jemals aus den Bergen zurückfand,
sagte die Nachbarin einmal zu mir, sie hob mahnend einen ihrer knöchernen Finger und klopfte damit gegen mein Brustbein.
Es kam einer, der an ihn erinnerte, der vielleicht sein Bruder hätte sein können, doch hatte dein Onkel keinen Bruder, und seine Schwester
(meine Mutter)
hatte sich nach und nach von ihm abgewandt, zu vieles ist doch passiert, bevor du geboren wurdest. Die Brenntage kamen, die Minenarbeiter und bald schon die Eisenbahn, allerlei brachte dein Onkel aus den Bergen mit, Fortschritt und Profit sollten unsere Zukunft sichern, allen die Möglichkeit
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