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Brenntage - Roman

Brenntage - Roman

Titel: Brenntage - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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tiefen Wälder und Minen waren für unliebsame Gestalten wie geschaffen. Die Männer ließen sie in ihren Fabeln aus Büschen springen, Waldgeister und Untote, Chimären mit Habichtsschnäbeln und blutroten Augen, Schlangenfrauen, die aus den Minen krochen und hinter Felsvorsprüngen lauerten, ihre Abendgeschichten waren für Albträume wie geschaffen. Sogar von Drachen war einmal die Rede, sie verschlangen das Vieh und einsame Wanderer, Soldaten und Jungfrauen, schlichtweg alles, was sich zu weit von der Siedlung entfernte.
    Ich erfuhr an einem dieser Abende, dass die Bewohner einer anderen Siedlung (man nannte sie
Nerluc
) einst sechzehn tapfere Männer ausgeschickt hatten, um einen Drachen namens Tarasque zur Strecke zu bringen, doch wurde die Hälfte der Unglücklichen vom Feuerstrahl des Drachen verbrannt, die anderen flohen und wurden nie wieder gesehen. Schließlich entsandte man eine junge Frau zum nahen Fluss, sie setzte sich auf einen Stein und sang so lange, bis der Drache auftauchte (verzaubert von der zarten Stimme), er lauschte ihren Liedern, bis er zu ihren Füßen einschlief und getötet wurde (so viel zu der Macht der Frauen).
    Ich wusste, die alten Männer wollten uns verunsichern, wir sollten in der Nähe der Siedlung bleiben, wo man uns im Auge behalten konnte, bestimmt waren die meisten Geschichten frei erfunden. Als ich dem Onkel davon erzählte, stellte sich heraus, er befand sich auf ihrer Seite und meinte, es sei verständlich, dass sich Väter um ihren Nachwuchs sorgten, wo sie doch in ihren Kindern weiterlebten. Er selbst ließe mir alle Freiheiten, weil er wisse, ich würde ihn nicht enttäuschen,
du bist ein kluger und umsichtiger Junge,
fügte er hinzu. Ich erinnere mich noch, dass ich damals nicht ganz genau wusste, was «Umsichtigkeit» eigentlich bedeutet, ich hielt sie für eine Aufforderung, die Augen offen zu halten und mitzudenken. Nichts von dem, was passierte, zu vergessen, da es vielleicht die einzige Möglichkeit war, später Zeugnis darüber abzulegen.
    Schon als Kind hatte ich das Gefühl, mein Leben (und das der Siedlung) dokumentieren zu müssen, die Mutter riet mir immerzu, nichts zu vergessen, selbst den kleinen, unscheinbaren Momenten Bedeutung beizumessen, nur dann würde ich irgendwann
erkennen
.
Du siehst einen Hasen,
schrieb die Mutter,
blitzschnell ins nächstbeste Gebüsch huschen, und je länger du darüber nachdenkst, umso seltsamer mag es dir erscheinen … In deiner Erinnerung erkennst du ein graues Fell, war es Meister L. oder doch nur eine übergroße Ratte?
Acht, neun dieser Ratten würden wohl ausreichen, um einen toten Soldaten in wenigen Stunden bis auf die Knochen abzunagen. Und geht man davon aus, dass die Nager nur allzu gerne ihre Zähne einsetzen (bevor sie ihnen über den Kopf wachsen), wird einem auch schnell klar, dass wohl nicht viel von einem Körper bleibt, vielleicht ein paar Knorpel oder Knochenstaub.
    Manchmal küssten sich die Mädchen unserer Siedlung im Wald, sie sagten,
bis es einer von euch tut,
und damit meinten sie uns Burschen, die ganz andere Sachen im Kopf hatten. Ich sah, wie sie einander mit ihren Zungen die Lippen leckten, immer dann, wenn wir irgendwo Blau- oder Himbeeren fanden, schier alles schien danach zu schmecken.
    Wir nannten einander in den Wäldern nie beim Namen, vermieden alles, woraus man hätte schließen können, wer wir waren und woher wir stammten. Sollten uns Soldaten irgendwann belauschen (oder schlimmer noch … aufgreifen), sie hätten niemals etwas erfahren, mit keiner Silbe hätten wir verraten, warum wir auf Pirsch waren, kreuz und quer im feuchtnassen Reisig und Laub, immerzu hätten wir ihnen bei den Verhören ein Schnippchen geschlagen. Sobald wir die Siedlung aus den Augen verloren, zerstreuten wir uns unter den Bäumen, kleine, versprengte Grüppchen, die niemals müde wurden und einander beistanden,
keiner wird zurückgelassen,
scherzten die Älteren.
    Es kam manchmal vor, dass ich mit einem der Mädchen am Bach saß oder an den Rändern der großen Schlucht entlangspazierte, und wenn ich Blaubeeren aß, leckte sie mir die Lippen ab und sprach von längst vergangenen Zeiten (als sie noch ein Kind war und es nicht besser wusste). Und sie nahm meine Hand und schob sie vorsichtig unter ihren Rock, und dann sahen wir zu, wie die Sonne sank und die ersten nachtaktiven Tiere aus ihren Löchern kamen. Ich wusste, sie und ich gehörten in verschiedene Welten … Ich gehörte dem Onkel, und sie einem ganz

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