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Brenntage - Roman

Brenntage - Roman

Titel: Brenntage - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mussten … die Jagd auf ihre eigene Brut.
    Manchmal wusste ich nicht mehr, wie viel Zeit schon vergangen, ob ich längst erwachsen war oder immer noch Kind, meinem Onkel reichte ich nur bis zu den Schultern, ganz egal, wann ich mich an ihm abmaß. Einige der Älteren in unserer Siedlung wollten sich daran erinnern, dass der Onkel einst beim Bau aller Häuser mitgeholfen hatte, dass sie das Material damals mit der Eisenbahn brachten und viele der Bauten (auch jene, die später vom Erdboden verschlucktworden waren) gleichsam über Nacht entstanden waren. Es wurde tatsächlich etwas vom Erdboden verschluckt? Ich bekam ganz hungrige Augen, wo ich doch solche und ähnliche Abenteuergeschichten immer noch mochte.
    Dein Onkel half überall mit
, erzählte mir die Tante früher (als sie noch lebte),
das Wohlergehen der Siedlung lag ihm am Herzen, er hätte ewig so weitermachen können.
Er trug schwere Möbelstücke in die Häuser der Ankommenden, half den Bauern mit ihren Feldern und Tieren, er schloss Verträge mit den Minengesellschaften, der Eisenbahn, fahrenden Händlern und manchen Armeen, immer wollte er nur das Beste. Die Bauern brachten ihm sogar kranke Tiere, die er zu heilen wusste, sie luden ihn später ein, diese Tiere zu schlachten, was als ehrenvoll und beispiellos galt und nur den wenigsten je angetragen wurde.
    Ich stellte mir oft vor, wie ihm meine Mutter (als sie beide noch jünger waren) zur Seite stand, dass sie Kühe und Ziegen festhielt, während ihnen mein Onkel die Gurgel durchschnitt, dass sie andere Tiere mit ihm pflegte und den Stall versorgte und die Salben und Tinkturen mit ihm ansetzte und über die wunden Stellen der geplagten Vierbeiner strich. Sie half ihm, die Soldaten bei Laune zu halten (die gewiss allesamt ein Auge auf meine Mutter geworfen hatten), sie bezirzte die Händler (die der Siedlung gute Preise machten), kümmerte sich um die Buchhaltung, grub Brunnen, begrüßte die Ankommenden und verteilte hausgemachte Marmeladen. In den Briefen meiner Mutter fand sich davon zwar kein Wort, doch bestimmt notierte sie nur das Wichtigste, Geschichten aus ihrer Jugend gehörten (in ihren Augen) wohl nicht dazu.
    Ich erinnere mich manchmal wehmütig an die Briefe meiner Mutter, die ich lange Zeit immer und immer wieder las, einzig und allein den Wunsch vor Augen, das zu entdecken, was mir bislang entgangen war. Einige enthielten detaillierte Skizzen und Pläne der Landschaft, manche beschrieben die Siedlung, wie sie früher gewesen war, noch bevor Minenarbeiter und Soldaten ins Land strömten. Viele ihrer Zeilen wandten sich unverblümt an mich, dass ich auf mich achten sollte, wo immer ich auch wäre, und dass sie niemals aufhören würde, an mich zu denken … Ich sollte sie nie vergessen und die Siedlung verlassen, sobald ich nur konnte (die Mutter hatte gut reden).
    Es gab keine Brücken mehr, die über die große Schlucht geführt hätten, es gab keine Steige und Pfade durch die Berge, es gab wohl noch andere Siedlungen (oder gar Städte) zwischen den Ebenen und Wäldern, doch wagte ich lange Zeit nicht, diese aufzusuchen. Früher, als mich der Onkel noch auf seine Wanderungen mitnahm, zeigte er mir die Lichter und Silhouetten dieser Orte,
sie bergen nur böse Überraschungen,
sagte er, ich könne es natürlich auch am eigenen Leib in Erfahrung bringen.
    Einmal war ich sogar hingeschlichen, quer durch die Wälder und Wiesen, vorbei an verwahrlosten Soldaten und mir wieder mal unbekannten Tieren, über Gräben und Gruben hinweg, bis ich irgendwann die fremden Häuser erreichte, sie glichen in sich zusammengesackten, vielleicht sogar zerbombten Ruinen. Ich lief bald wieder zu unserer Siedlung zurück, blieb kein einziges Mal stehen und blickte mich auch kein einziges Mal um … Die anderen Kinder begrüßten mich herzlich und wollten wissen, wo ich mich herumgetriebenhatte,
deine Haare sind nun viel länger,
sagte der eine, und eine andere wiederum meinte, meine Haut wäre jetzt viel blasser. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und ich legte ihr die meinige auf den Handrücken, sie hatte natürlich recht, meine Haut war tatsächlich etwas fahl, dennoch wunderte ich mich, wie es so weit hatte kommen können.
    Ich erinnere mich, dass wir uns eine ganze Weile lang mit den Worten
Du bist
begrüßten, als wollten wir dadurch verdeutlichen, dass wir die körperliche Nähe des anderen spürten und selbstverständlich auch akzeptierten. Wir hatten diese unseren Fangenspielen entliehen, änderten

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