Bretonische Brandung
Mitarbeiterin nicht gesagt, warum sie sie brauchte.«
»Und jeder hat jederzeit Zugang zu seiner Akte?«
»Ja. Das ist ein absolut regulärer Vorgang.«
Dupin verfiel in Schweigen. Die Vermutung, die in seinem Kopf immer weiter Raum einnahm, war noch sehr unvollständig.
»Ich brauche einen Hubschrauber.«
Riwal und Le Coz sahen ihn überrascht an.
»Ich muss aufs Festland. Nach Fouesnant. Ich will in die Mairie.«
Es dauerte eine Weile, bis eine Reaktion kam.
»Ich fordere ihn an.«
Le Coz stand auf und trat ein paar Meter beiseite.
Riwal blickte Dupin erwartungsvoll an.
»Ich will die Akte einsehen.«
»Suchen Sie etwas Bestimmtes? Ich meine, wissen Sie, was Sie suchen?«
»Nein.«
Es stimmte. Er wusste nicht, was er suchte, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er genau dort suchen musste.
»Der Hubschrauber ist unterwegs«, meldete sich Le Coz. »Er war gerade mit der Spurensicherung auf Brilimec. Die müssen dann eben warten.«
Dupin musste an René Reglas denken und unwillkürlich grinsen. Dabei fiel ihm etwas ein, das er eben schon hatte machen wollen. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und wählte Reglas’ Nummer. Es dauerte, bis der Anruf angenommen wurde.
»Ah, Monsieur le Commissaire. Ich hätte es angemessen gefunden, wir wären direkt und persönlich im Gespräch gewesen über die …«
»Können Sie schon etwas Genaueres über die Fußspuren im Haus sagen?«
»Ich …«
»Große Füße, kleine Füße? Frauen, Männer?«
»Das ist extrem schwer zu sagen, Sie haben es selbst gesehen, keine der Spuren ist deutlich. Und vor dem Haus ist der Boden fest und steinig. Aber selbst, wenn es welche gegeben hätte, der Sturm hat alle Spuren draußen vernichtet. Auch an den Stränden, Goulch hat uns die Stellen gezeigt. Da haben wir nichts mehr gefunden. Gar nichts. Ich kann mich bislang noch nicht festlegen.«
Dupin hasste dieses »noch nicht festlegen«.
»Ich will nur wissen, was Sie denken. Eine erste Vermutung.«
»Es sind weder signifikant kleine noch signifikant große Abdrücke.«
Großartig. Es war kein Riese und kein Zwerg.
»Eine Frau?«
»Das kann ich nicht sagen. Ich denke, es waren Schuhgrößen zwischen 38 und 44.«
Das half auch nicht wirklich.
»Wir schließen die Arbeiten gerade ab. Und fliegen jetzt sofort wieder zurück. Wir werden uns dann die beiden Kugeln …«
Ein ohrenbetäubender Lärm hob an. Dupin kannte ihn mittlerweile gut. Rotorenblätter.
»Hier startet … hören Sie mich noch, Commissaire?«
Dupin legte auf.
Er wandte sich an Riwal und Le Coz.
»Der Hubschrauber ist gleich da. Ich muss los.«
»Sie können sich gern setzen. Bitte sehr.«
Die nicht nur dünne, die geradezu dürre Mitarbeiterin der Mairie de Fouesnant war überaus beflissen, in übertrieben devoter, dabei zugleich herrischer Weise – eine gefährliche Mischung, wusste Dupin. Die Strenge ihrer Züge hatte sie mit Gewalt zu einem Lächeln verformt. Anfang sechzig, schätzte er.
Dupin nahm mit einem knapp zustimmenden Nicken die Mappe, die die Mitarbeiterin ihm mit festem Griff entgegenhielt. Er setzte sich an einen der jahrzehntealten dunkelgelblich furnierten Tische, die in unsinnig beliebiger Verteilung herumstanden. Dupin hatte einen einzelnen Tisch in der Ecke gewählt – als Zeichen, ungestört sein zu wollen.
Sie hatten vom kleinen Flughafen in Quimper mit dem Wagen nicht mal eine Viertelstunde gebraucht. Riwal hatte das Kommen des Kommissars angekündigt, der Vizebürgermeister – Du Marhallac’h war »verhindert« – hatte ihn beinahe feierlich empfangen und in die erste Etage begleitet. Verfolgt von den neugierigen Blicken der Mitarbeiter.
Die Mappe schien fast zu platzen. »Jacques Nuz und Solenn Pleuvant, dann Nuz« hieß es auf dem maschinenschriftlichen Reiter. »Jacques Nuz« war handschriftlich mit einem kurzen, scharfen waagerechten Strich durchgestrichen worden. Das »und« hatte man stehen gelassen, was seltsam aussah.
Die Dokumente waren chronologisch geordnet. Die Akte schien penibel geführt. Die jüngsten Dokumente zuvorderst.
Dupin fand den aktuellen Antrag, der, von dem Le Coz erzählt hatte. Vierundzwanzig Seiten lang. Ein handschriftlich ausgefülltes Formular. Zwei angefügte Bauskizzen. Aufriss, Grundriss. Von einem Architekten namens Pierre Larmont. Aus Quimper. Ein »Neubau in massiver Bauweise des bestehenden Anbaus in Holzbauweise«. Der Antrag wimmelte von Fachbegriffen, die Dupin nicht verstand, aber alles machte einen vollkommen
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