Bretonische Brandung
altbekannte Theater: Nicht nur der Präfekt, auch andere »wichtige« Leute würden ihn nun »unbedingt« sprechen wollen, ihm dieses und jenes Wichtige »mitteilen« und natürlich wissen wollen, wie es um die Ermittlungen stand. Vor allem um dringlich hervorzuheben, wie dramatisch dieser Fall sei und welche verheerende Konsequenzen er habe, an sich schon, aber eben auch mit jeder Minute, die er noch unaufgeklärt bliebe … Dupin hasste das, und: Er wäre von nun an gut und gern den ganzen Abend damit beschäftigt, diese Art Gespräche zu führen.
Die Luft war schwerer geworden, stickiger, vom schon zuvor dürftig vorhandenen Sauerstoff war nun noch weniger übrig, als Dupin das Quatre Vents wieder betrat.
Auch das kam ihm jetzt vollkommen irreal vor: An dem Ort, wo er vorhin noch beinahe in Ferienstimmung den besten Hummer seines Lebens gegessen hatte, war höchstwahrscheinlich ein kapitaler Mord begangen worden. Das war einer der Gedanken gewesen, die ihm eben durch den Kopf geschossen waren. Natürlich konnte es sein, dass Konan und Lefort, ohne es zu ahnen, das Beruhigungsmittel nach ihrem Besuch im Quatre Vents zu sich genommen hatten, vielleicht hatte es der Täter in Wasserflaschen auf dem Boot gemischt, aber Dupin hielt das für eher unwahrscheinlich. Es wäre für den Mörder sehr schwer vorherzusagen gewesen, ob sie es zu sich nehmen würden – und ob zum »richtigen« Zeitpunkt. Unkalkulierbar. Am wahrscheinlichsten schien es, dass ihnen jemand das Mittel unbemerkt im Quatre Vents ins Essen oder in die Getränke gemischt hatte. Das hieße jedoch: Der Mörder musste sich gestern Abend hier aufgehalten haben.
Riwal und Kadeg waren noch nicht eingetroffen. Solenn Nuz, die zugleich mit der linken Hand an der Kaffeemaschine hantierte und mit der rechten Wein nachfüllte – eine imposante Formation von Gläsern stand vor ihr auf dem Tresen –, hob kurz den Kopf und lächelte ihm mit einem freundlich-verständnisvollen Blick zu, als wollte sie sagen: »Die Arbeit …« Dupin fiel erst jetzt wieder ein, dass sie mitten im Gespräch gewesen waren, als Savoirs Anruf kam. So unpassend es im Moment für sie sein mochte, er musste sie sprechen. Sie zuallererst. Sie und ihre Töchter würden am ehesten wissen, wer sich gestern Abend im Quatre Vents überhaupt aufgehalten hatte. Inzwischen ging es tatsächlich um alle Gäste. Sie brauchten schnellstmöglich die vollständige Aufstellung.
Dupin schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und erreichte die Bar.
»Etwas Dringendes?«
»Leider ja.«
Solenn Nuz hatte ein gutes Gespür, was Dupin kein bisschen überraschte.
»Kommen Sie.«
Mit derselben reduzierten Kopfbewegung wie eben deutete sie Richtung Küche und drehte sich um. Dupin folgte ihr. Die ältere Tochter räumte gerade die Spülmaschine aus. In der entgegengesetzten Ecke des Raums war sogar Platz für einen kleinen Tisch und vier Stühle, die gleichen wie auf der Terrasse, allerdings in einem tiefen atlantischen Blau gestrichen. Es war eng, anheimelnd dabei, gemütlich, auf dem Tisch standen zwei offene Flaschen Wein, ein paar halb volle Gläser, daneben lag ein halbes Baguette, zwei Kerzen standen in leeren Weinflaschen. Solenn Nuz blieb vor dem Tisch stehen.
»Sie und ihre Töchter könnten – müssten uns behilflich sein. Wir brauchen eine exakte, vollständige Auflistung aller Gäste, die sich gestern Abend im Quatre Vents aufgehalten haben. Zwischen sieben und neun Uhr. Es darf keiner fehlen. Und wir brauchen sie, so rasch es geht.«
Dupin hatte nach wie vor versucht, unaufgeregt zu klingen, es als Routine zu formulieren, aber Solenn Nuz hatte bereits realisiert, dass sich etwas verändert hatte. Jetzt erst recht. Was sollte er sagen? Er konnte ja die Dringlichkeit nicht mindern, nur damit ihr sein Ansinnen nicht suspekt vorkam.
»Wenn Sie sich mit Ihren Töchtern besprechen könnten?«
Es war Solenn Nuz anzusehen, dass ihr die Frage auf der Zunge lag, was das alles bedeutete. Doch sie fragte nicht. Wofür Dupin sehr dankbar war. Nach einer kleinen Pause antwortete sie in bedachtem Tonfall.
»Einen Teil der Gäste, die hierherkommen, kennen wir wie gesagt nicht. Die Teilnehmer der Segel- und Tauchkurse zum Beispiel. Ein paar davon sieht man an mehreren Tagen hintereinander, manche nur ein einziges Mal. Oder die Besucher mit ihren eigenen Booten, Tagestouristen und so weiter.«
»Wir werden auch bei der Segelschule und im Tauchzentrum nachforschen.«
»Es ist wichtig,
Weitere Kostenlose Bücher