Bretonische Brandung
im Sommer die Hundert-Meter-Marke schaffen.«
»Hundert Meter?«
»Eine Bretonin. Sie wird es schaffen.«
»Ich verstehe. Nolwenn?«
»Ja, Monsieur le Commissaire?«
»Auf dem Boot heute Mittag … Wir haben Delphine gesehen.«
Dupin wusste nicht, wie er jetzt auf das Thema kam, das hier gar nichts zu suchen hatte. Durch das Tauchen wahrscheinlich.
»Interessante Tiere. Aber seien Sie vorsichtig.«
»Wie bitte?«
»Erinnern Sie sich nicht an Jean Floch? Den Delphin, der mutwillig Fischernetze zerrissen und Ruderboote angegriffen und versenkt hat, sodass die Angler ins Meer stürzten? Vor vier Jahren, da waren Sie noch in der Hauptstadt, es ging aber landesweit durch alle Medien. Ein aggressiver Einzelgänger, der die bretonischen Küsten in Angst und Schrecken versetzt hat. Wie ein tollwütiger Hund. Dreihundert Kilogramm schwer!«
Das klang ja brutal. Dupin hatte bei Delphinen immer an anderes gedacht.
»Ein Wunder, dass er keine Witwen und Waisen hinterlassen hat. Es wurden überall im südlichen Finistère Schwimmverbote verhängt. Man hat ihn dann mit Lärm vertrieben. – Ja, sexuell reife Männchen zeigen zuweilen ein extremes Dominanzverhalten und werden aus der Gruppe ausgeschlossen.«
»Sie waren alle ganz eindeutig in der Gruppe. Ich meine: Es war hundertprozentig eine Gruppe, kein einzelnes Tier.«
Dupin hatte noch sagen wollen, dass die aggressiven Männchen ja sicherlich die absolute Ausnahme seien und es sich insgesamt doch um friedliebende Wesen handele, genau dafür waren sie schließlich unter anderem berühmt – es dann aber gelassen. Es war ohnehin ein absurdes Gespräch.
»Gut. Dann sprechen wir uns später, Monsieur le Commissaire.«
Nolwenn klang vollkommen aufgeräumt.
»Das tun wir.«
Sie legte auf.
Dupin blieb regungslos stehen. Das war ein verrückter Fall. Nicht bloß der Fall selbst. Alles.
Die Bakounine hatte sich Cigogne – der Insel mitten in der Kammer – bereits bis auf fünfzig Meter genähert. Die im Prinzip kreisrunde Festung war schon deutlich zu sehen. Das legendäre Fort Cigogne hatte, danach war es benannt, an sieben Stellen einen eckigen Knick (»seiz kogn«, sieben Ecken auf Bretonisch). Heute wurde es von der Segelschule genutzt. Früher waren von hier aus Korsaren gejagt worden, die auf den Glénan perfekten Unterschlupf gefunden hatten, die schlimmsten unter ihnen kamen von der englischen Insel Guernsey, natürlich. Es galt als Tatsache, dass es im und unter dem Fort verborgene Kammern und Gewölbe gab. Gänge endeten plötzlich im Nichts. Man sprach von weitverzweigten Geheimtunneln unter dem Meeresboden, durch die man alle Inseln erreichte. Beim Anblick der dunklen auratischen Festung glaubte man es sofort.
Dupin fiel ein, dass er vorhin gar nicht nachgefragt hatte, was »die Runde machen« bedeutete. Es waren doch ziemlich viele Inseln.
Das dunkle Wolkenband hatte sich näher herangeschoben, es war inzwischen tiefschwarz und deutlich breiter geworden. Das hatte hier in der Bretagne gar nichts zu bedeuten. Allerdings musste Dupin zugeben, dass er vor ein paar Stunden nicht vermutet hätte, dass es sich überhaupt in ihre Richtung bewegen würde. Von echtem Wind konnte man immer noch nicht sprechen, aber der schwache Windzug, der jetzt am Nachmittag wieder zu spüren war, kam eindeutig aus der entgegengesetzten Richtung, aus Osten. Dupin entspannte sich. Einen Moment später stand er wieder im Fahrstand. Anjela Barrault empfing ihn mit ihrem betörenden Lachen.
»Das sind amüsante Ermittlungen. Ich meine, die Art, wie Sie arbeiten.«
»Ich … Sie und Solenn Nuz sind Freundinnen, hat man mir gesagt.«
»Sehr alte Freundinnen. Wir sind zusammen in die Grundschule gegangen. Loctudy.«
»Und wie sind Sie auf die Inseln und zu diesem Job gekommen?«
»Sie wollen meine Geschichte hören?«
Sie schien das erste Mal wirklich erstaunt zu sein.
»Will ich.«
»Nach dem Tod ihres Mannes hat Solenn Nuz überlegt, die Tauchschule zu verkaufen. Lefort wollte sie übernehmen. Er hat ihr ein imposantes Angebot gemacht. Muriel Lefort ebenso. Sie hat ihren Bruder sogar noch überboten. Ich war damals Hobbytaucherin, eigentlich Yogalehrerin, und davor bin ich zwei Jahre in Katmandu gewesen. Als ich zurückkam, habe ich Solenn zufällig wiedergesehen. Wir haben uns verabredet. Dann hat sie mir von ihrer Situation erzählt, mir ein Angebot gemacht, und in einer Kneipe, nachts um zwei, habe ich gesagt, ich mache das. Mein damaliger Freund hatte, während ich
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