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Bretonische Verhältnisse

Bretonische Verhältnisse

Titel: Bretonische Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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Commissaire? Ich gehe nämlich jetzt gleich nach Hause.«
    »Ja, tun Sie das. Ich komme heute nicht mehr ins Büro.«
    »Es wird voll sein heute Abend in Concarneau, die ersten Vorveranstaltungen des Festivals laufen. Denken Sie dran, wenn Sie zurückkommen. – Der Präfekt bittet ebenso um einen Rückruf wie der Bürgermeister von Pont Aven. Ich habe beiden gesagt, sie befänden sich ohne Unterbrechung in Gesprächen, bis spät in die Nacht.«
    »Großartig.«
    Dupin bewunderte Nolwenn. Sie war von einer durch nichts zu erschütternden praktischen Zielstrebigkeit. Nichts war ihr unmöglich, alles schien immer nur eine Frage des – falschen oder richtigen – Herangehens zu sein. Was ihn, als sie ihm vorgestellt worden war, sofort für sie eingenommen hatte, waren ihre wachen Augen, in denen eine eigensinnige Intelligenz funkelte. Sie war eine gut aussehende Frau, Ende fünfzig, eher klein, kurze blonde Haare. Nolwenn war ihm unentbehrlich, ganz allgemein, insbesondere auch wegen ihrer schier unendlichen lokalen und regionalen Kenntnisse. Sie war in Concarneau geboren und aufgewachsen – in Konk-Kerne natürlich, so der bretonische Name der Stadt –, nie weggegangen, Bretonin durch und durch, der Frankreich im Grunde immer noch suspekt war. Schließlich gehörte die Bretagne erst seit 1532, »seit lächerlichen fünfhundert Jahren«, zu Frankreich – eine Annexion! Nolwenn half ihm, die Seele der Bretagne und ihrer Menschen zu begreifen. Ihm war zu Beginn gar nicht klar gewesen, wie unerlässlich das für seine Arbeit hier sein würde. Seit seinem ersten Tag hatte sie ihm Lektionen in bretonischer Geschichte, Sprache, Kultur und bretonischer Küche ( kein Olivenöl – Butter!) gegeben. Sie hatte ihm zwei Sätze in zwei kleinen blauen Rahmen über den Schreibtisch gehängt. Den berühmten Ausspruch der Maria von Frankreich aus dem 12. Jahrhundert: »Die Bretagne ist Poesie« und einen Eintrag aus einem Konversationslexikon, in kitschig dekorativen Lettern gestaltet: »Der Bretone hat, vielleicht ein Ausdruck seines von Stürmen umbrausten, rauen Landes, eine melancholische Gemütsstimmung, ein zurückhaltendes Wesen, dabei eine lebhafte, poetische Einbildungskraft, innere Empfindsamkeit und oft große Leidenschaftlichkeit, verborgen hinter äußerer Rohheit und Fühllosigkeit.« Dupin hielt die Formulierung selbst für einen Ausdruck einer lebhaften poetischen Ausdruckskraft. Dennoch war, das war ihm immer klarer geworden mit der Zeit, etwas sehr Wahres an diesen Sätzen.
    Zu ihren spielerischen Ritualen gehörte, dass Nolwenn Dupin mit den – etwas schwierigeren – Zügen der Bretonen versöhnte, mit ihrem berüchtigten Eigensinn, ihrer Starrköpfigkeit, ihrer Bauernschläue, ihrer Wortkargheit auf der einen und Geschwätzigkeit auf der anderen Seite. Oder auch mit der aufs höchste ausgeprägten Vorliebe für bretonische Komparative und Superlative. Der größte Artischockenproduzent der Welt, die zweitgrößte Gezeitenstärke der Welt (bis vierzehn Meter!), die Region mit den meisten Trachten der Welt (sechsundsechzig und tausendzweihundert Unterarten), der größte Thunfischhafen Europas (Concarneau), die weltgrößte Menge an angelandetem Tang und Algen, die meistgelesene Tageszeitung Frankreichs ( Ouest-France ), die höchste Dichte historischer Denkmäler, die größte Anzahl von Fischkonserven-Herstellern der Welt, die meisten Seevogelarten Europas. Nicht zu vergessen natürlich die siebentausendsiebenhundertsiebzig Heiligen, die bis heute mehr oder minder aufwendig geehrt wurden, für jedes erdenkliche Zipperlein einen. Heilige, von denen weder die Welt noch Gott je gehört hatten. Zuweilen waren es auch Zahlen, die an sich gar nicht so imposant wären, aber in einem emphatischen bretonischen Satz doch sehr so klangen; dass es zum Beispiel vier Millionen Bretonen gab oder dass die Bretagne ein Sechstel der Landfläche Frankreichs ausmachte – das war doch eher wenig, fand Dupin, was ja nicht schlimm war.
    War Dupin der Wechsel von Paris ans Ende der Welt am Anfang sehr schwergefallen, so war er im Inneren längst selbst »ein wenig ein Bretone« geworden (auch wenn er dies sich selbst und anderen gegenüber nie zugeben würde, er, der lupenreine Pariser in der tiefsten Provinz), wie Nolwenn ihn zuweilen lobte, wenn er Fortschritte machte in ihren gestrengen Augen. Und bei der Beurteilung eines »Parisers« war sie doppelt streng, in Dupins eigenem Interesse, fand sie. Natürlich blieb dieses Lob sehr

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