Bretonische Verhältnisse
alles so arrangiert, dass man durch die unglaublich großen Fensterscheiben einen atemberaubenden Blick hatte, auch jetzt bei diesem Wetter.
Madame Cassel hatte einen der Sessel gewählt, Dupin den anderen. Sie saßen weit auseinander.
»Das ist spektakulär. Ich hätte nicht gedacht, dass das Meer so nah ist.«
Dupins Blick ging in die Ferne, zum fast nicht auszumachenden schwarzen Horizont. Sie saßen schweigend und schauten staunend aus dem Fenster.
Sauré kam mit einem kleinen hübschen Holztablett zurück.
»Madame Cassel ist Professorin an der Universität in Brest, Kunsthistorikerin. Unter anderem auf Gauguin spezialisiert, sie …«
»Aber ich weiß doch, wer Madame Cassel ist, Monsieur le Commissaire.«
Saurés Stimme klang fast beleidigt. Er wandte sich an Madame Cassel.
»Ich kenne selbstverständlich einige Ihrer Publikationen, Madame Cassel. Exzellent. Sie genießen in Paris durchaus Ansehen. Es ist mir eine große Freude, nun persönlich Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Monsieur Sauré.«
Sauré hatte sich auf das Sofa gesetzt, ziemlich genau in die Mitte, sodass er gleich weit von Dupin und Madame Cassel entfernt saß.
Dupin hatte sich für den direkten Weg entschieden.
»Was haben Sie gedacht, als Sie von der Existenz einer Variante der Vision erfahren haben?«
Er hatte seinen Satz ganz unaufgeregt formuliert. Marie Morgane Cassels Kopf schnellte dennoch in seine Richtung, sie schaute ihn erstaunt an. Charles Sauré fixierte Dupin mit unbewegter Miene und antwortete mit entspannter und klarer Stimme.
»Sie wissen von dem Bild. – Natürlich wissen Sie von dem Bild. Ja. Es ist stupend. Eine unglaubliche Begebenheit. Eine veritable Sensation. Eine zweite Vision .«
Jetzt war Madame Cassels Kopf in Richtung Sauré geschnellt. Sie schaute vollkommen verblüfft.
»Es gibt eine zweite Version der Vision nach der Predigt ?«
»Ja.«
»Ein zweites Bild? Einen großen, bisher ganz unbekannten Gauguin?«
Man konnte die Gänsehaut auf ihren Armen sehen.
»Ich habe ihn gesehen. Es ist, ich sage es gleich, in meinen Augen noch großartiger als das bekannte Bild, mutiger, kühner, radikaler. Das Orange steht wie ein gewaltiger Block. Es ist unglaublich. Alles, was Gauguin gewollt hat, alles, was er gekonnt hat – alles ist hier zu sehen. Der Kampf ist zugleich noch deutlicher eine Vision und noch realer ein Geschehen – wie die Nonnen, die da stehen und schauen.«
Es dauerte einen Moment, bis Dupin begriff, was Sauré gerade gesagt hatte.
»Sie haben was? Sie haben das Bild selbst gesehen?«
»Ja, ich habe es gesehen. Ich war da. Mittwoch. Pierre-Louis Pennec und ich haben uns am Mittwoch im Hotel getroffen. Am Nachmittag.«
»Sie haben wirklich das Bild gesehen?«
»Ich stand eine halbe Stunde vor ihm, es hängt im Restaurant, direkt hinter der Tür. Das ist eine unglaubliche Vorstellung, ein echter Gauguin, ein ganz unbekanntes Bild …«
»Und Sie sind sich sicher, dass es echt ist? Dass es wirklich von Gauguin ist?«
»Ich bin mir meiner Sache sehr sicher. Natürlich muss es einer Reihe wissenschaftlicher Überprüfungen unterzogen werden. Aber das ist nach meinem Dafürhalten eine Formsache. Es besteht für mich kein Zweifel, dass das Bild echt ist.«
»Das Bild, das Sie gesehen haben, ist definitiv keine Kopie?«
»Eine Kopie? Was meinen Sie? Wie kommen Sie darauf?«
»Ich meine, das Bild ist nicht das Werk eines Malers, der in Gauguins Stil gemalt hat? So wie die ganzen Imitatoren?«
»Nein, auf keinen Fall.«
»Wie können Sie sich dessen so sicher sein?«
»Monsieur Sauré ist eine Koryphäe. Sie könnten weltweit kein kompetenteres Urteil bekommen, Monsieur le Commissaire.«
Sauré konnte ein geschmeicheltes Lächeln nicht verbergen.
»Vielen Dank, Madame.«
Dupin hatte sich entschlossen, von der Kopie, die jetzt im Restaurant hing, nichts zu erzählen. Madame Cassel schien das begriffen zu haben.
»Warum hat Pierre-Louis Pennec Sie angerufen und kommen lassen? Was wollte er? Könnten Sie einmal vom ersten Kontakt an erzählen, wie es sich abgespielt hat?«
Sauré lehnte sich zurück.
»Natürlich. Pierre-Louis Pennec rief mich am Dienstagmorgen ein erstes Mal an. So um halb neun. Er fragte, ob er ein vertrauliches Gespräch mit mir führen könne, es ginge um eine größere Angelegenheit. So formulierte er es. Absolute Vertraulichkeit war ihm sehr wichtig. Ich war auf dem Weg zu einer Besprechung und habe ihn gebeten, mich am
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