Bretonische Verhältnisse
auf das Hotel zu. Sie klopfte sich den Regen vom Mantel, als sie vor seinem Tisch in der Bar stand.
»Was ist passiert?«
»Der Sohn von Pierre-Louis Pennec ist von den Klippen gestürzt – gestürzt oder gestürzt worden, wir wissen es noch nicht. Da drüben.«
Dupin zeigte in Richtung Plage Tahiti.
Madame Cassel wurde blass. Sie legte sich die Hand auf die rechte Schläfe.
»Das ist eine richtig schlimme Sache, oder? Ich beneide Sie nicht.«
»Danke. Ich meine, ja. Das ist eine schlimme Sache. Und wird einen riesigen Wirbel geben, absolut fürchterlich.«
»Das glaube ich. Wollen Sie weiter über das Bild sprechen? Wollten Sie mich deswegen noch einmal sehen?«
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Zeit hätten, mich zu einem Gespräch zu begleiten? Ich muss nach Carantec und den Sammlungsleiter des Musée d’Orsay sprechen.«
»Den Leiter der Sammlung des Musée d’Orsay ? Charles Sauré?«
»Er war es, mit dem Pennec gesprochen hat. Wir konnten bislang noch nicht mit ihm sprechen, wir haben keine Ahnung, worum es bei diesem Gespräch ging. Das will ich von Monsieur Sauré selbst erfahren.«
»Und wie kann ich Ihnen helfen?«
»Was macht der Sammlungsleiter eines Museums?«
»Er ist verantwortlich für die künstlerische Leitung – die Frage, welche Bilder die Sammlung hat, kauft, verkauft. Alles natürlich in enger Abstimmung mit dem Museumsdirektor.«
»Hätte sich Pennec an ihn gewandt, wenn es um das Bild gegangen wäre? Ich meine, wenn es einen echten Gauguin gäbe.«
»Warum hätte er sich an ihn wenden sollen, wenn er wusste, dass es einer ist? Ich meine: dann nicht für eine Bestätigung.«
»Eben.«
»Und das wollen Sie herausfinden?«
»Und dabei brauche ich vielleicht Ihre Hilfe. Die ganzen Kunstdinge …«
Marie Morgane Cassel schien zu überlegen.
»Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen helfen könnte. Und um fünf muss ich zurück in Brest sein. Es gibt das ganze Wochenende über so einen großen Kunsthistoriker-Kongress. Das ist eigentlich nicht so meine Sache, aber heute muss ich meinen eigenen Vortrag halten.«
»Ich wäre Ihnen sehr verbunden – Charles Sauré wird mir Dinge erzählen, die ich nicht verstehe. Ich muss wissen, ob es einen echten Gauguin gibt. Das ist das Wichtigste im Augen blick. Wir brauchen Boden unter den Füßen. Und wir werden sicherstellen, dass Sie um fünf an der Uni sind, das lässt sich organisieren.«
Madame Cassel bewegte sich Richtung Tür.
»Fahren wir in Ihrem Wagen?«
Dupin musste wieder lächeln, wie gestern Abend.
»Ja, wir nehmen meinen Wagen.«
Es war eine mühsame, nervtötende Fahrt gewesen. Eine Fahrt wie Dupin sie hasste. Bei »dem Wetter« waren die Urlauber natürlich nicht an die Strände gefahren, sondern hatten beschlossen, einen »Ausflug« zu machen, einen Stadttag mit Besichtigungen, Besorgungen, Souvenirkäufen. So war die N 165, der südliche Teil der legendären Route Nationale, die einmal um die ganze wild zerklüftete Halbinsel führte, überfüllt gewesen. Die Bretagne besaß ab Rennes keine Autobahn, die Route Nationale war die Quasi-Autobahn, mit vier Spuren, aber nur Tempo 110. Der Verkehr war »zähflüssig bis stockend«, so der Terminus technicus von »107.7«, dem nationalen Verkehrssender, auf den ganz und gar Verlass war, egal ob an der Kanalküste, in der Champagne, an der Côte d’Azur oder in der Bretagne. Stockend zunächst bis Quimper, dann stockend weiter bis Brest. Und auch stockend bis Morlaix. Die ganze Fahrt über.
Unter normalen Umständen (also über zehn Monate und zwanzig Tage im Jahr) hätte die Fahrt eine gute Stunde gedauert, jetzt zweieinhalb Stunden. Sie waren kurz vor eins da. Marie Morgane Cassel und Dupin hatten wenig gesprochen. Dupin hatte eine Reihe von Anrufen machen müssen. Zwei Mal Riwal, ein Mal Nolwenn, die bereits auf dem Laufenden gewesen war, es war immer wieder verblüffend, dann Kadeg und Locmariaquer (fürchterlich, wie jedes Mal, Dupin hatte nach einer Minute behauptet, die Verbindung sei sehr schlecht, hatte ein paarmal gefragt: »Ich höre Sie nicht mehr, hören Sie mich?« und dann aufgelegt). Kadeg war bei Madame Pennec gewesen. Es war ein deprimierendes Gespräch gewesen, wie Riwal berichtet hatte. Die Nachricht hatte sie noch nicht erreicht gehabt. Madame Pennec war zusammengebrochen, und Kadeg hatte vorsichtshalber medizinische Hilfe geholt; ihr Hausarzt war gekommen und hatte Catherine Pennec eine Beruhigungsspritze gegeben. Darüber, wann Loic Pennec
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