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Bretonische Verhältnisse

Bretonische Verhältnisse

Titel: Bretonische Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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musste raus. An die frische Luft. Etwas laufen. Er war es leid, alles, und der Tag hatte gerade erst begonnen. So kam er nicht weiter. Er verabscheute André Pennec. Sie machten beide keinen Hehl daraus, was sie voneinander dachten. Ja. Aber – er war es nicht gewesen. Er war nicht der Mörder. Zumindest hatte er die Morde nicht selbst begangen.
    Dupin ging die Rue du Port herunter, noch war nichts los in den Straßen, die Galerien und Läden öffneten nicht vor halb elf. Er lief zum Hafen, blieb kurz stehen, wo er immer stehen blieb, direkt am Anfang der Mole. Dann lief er weiter, am westlichen Ufer des Avens, so weit den Fluss hinunter wie er in den letzten Tagen noch kein Mal gelaufen war.
    Hier am Ende des Hafens sah Pont Aven schon ein wenig aus wie Kerdruc oder Port Manech. Die Hügel auf beiden Seiten des Avens wurden flacher, ganz sanft hoben sie hinter dem Ufer an, zwischen ihnen harmonische Senken, in denen es florierte wie in botanischen Gärten. Alle paar Meter standen Palmen, auch die hohen, dünnen, die Dupin so mochte, die immer in kleinen Gruppen wuchsen und steil aufragten. Riesige Rhododendronbüsche. Ginster. Und Kamelien. Es roch nach Morgen und auch nach Meer, dem algig-schlammigen Boden der Ebbe. Die letzten Häuser des Ortes lagen fast ganz verborgen im Grünen, mit weitläufigen, geschwungenen Gärten. Veritable Villen. Hier war die Straße zu Ende, hier war der ganze Ort zu Ende, nur ein erdiger Pfad führte weiter. An dieser Stelle begann der Fluss – der Fjord, zu mäandern, plötzlich breit zu werden, sich wieder zusammenzuziehen, Arme auszubilden, Becken, große Sandbänke. Vor allem aber begannen hier die Wälder, die dichten, verwunschenen Eichen- und Buchenwälder voller Misteln, Moos und Efeu. Der legendäre Bois d’Amour hatte für die Künstler Ende des 19. Jahrhunderts eine große Rolle gespielt, auf Dutzenden ihrer Gemälde war er zu sehen.
    Ohne groß nachzudenken folgte Dupin dem Weg in den Wald hinein. Hin und wieder gab es Abzweigungen. Er blieb nahe des Flusses. Sein Handy vibrierte immer wieder. Nummern, die er nicht kannte. Oder nicht annehmen wollte. Zweimal Locmariaquer.
    Dupin war fast eine Dreiviertelstunde gelaufen. So weit hatte er gar nicht gehen wollen. Er hatte von der Natur nicht viel wahrgenommen. Seine Gedanken waren auf ganz unfruchtbare Weise gekreist, seine Stimmung hatte sich noch weiter eingetrübt. Vor allem fühlte er sich absurderweise in der frischen Luft noch müder. Der Spaziergang hatte nichts geholfen. Was er sehr dringend brauchte, war mehr Koffein. Er hätte in ein Café gehen sollen. Jetzt kam ihm dieses Herumlaufen grotesk vor – er befand sich an einem verzweifelten Punkt dieses schwierigen Falles und spazierte durch wilde keltische Wälder.
    Der schmale Weg führte gerade wieder bis direkt ans Ufer. Dupin blieb stehen. Er würde zurückgehen. Der Aven floss hier bei tiefster Ebbe als kleiner Fluss gemächlich in seiner Rinne dem Meer zu. Wieder vibrierte das Telefon. Dupin sah Nolwenns Nummer. Dieses Mal ging er ran.
    »Ja?«
    »Wo sind Sie?«
    »Ich stehe im Bois d’Amour .«
    »Ah.«
    »Ja.«
    »Und was tun Sie dort?«
    »Ich denke nach.«
    Dupin wusste, dass das komisch klang. Und komisch war. Aber er wusste auch, dass Nolwenn das kannte.
    »Gut, ja.«
    »Sie wollen mir sagen, wer sich alles mit absoluter Dringlichkeit gemeldet hat und mich partout sprechen muss. Dass es hoch hergeht.«
    »Kommen Sie voran?«
    Nolwenn wusste, dass es kein gutes Zeichen war, wenn er sich nicht von selbst meldete.
    »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.«
    »Verzagen Sie nicht, ich kalmiere die Gemüter, so weit ich kann. Sie wissen, die Bretagne ruht auf sehr alten und sehr festen Landmassen.«
    Das war einer von Nolwenns mantrischen Sätzen, deren Sinn in der jeweiligen Situation meist dunkel blieb. Aber Dupin mochte den Satz.
    »Sehr alte solide Landmassen. Und darauf Granit. Granit in gewaltigen Blöcken.«
    »So ist es, Monsieur le Commissaire.«
    Nicht abzustreiten war, dass der Satz eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte.
    »Ich muss mich beim cholerischen Präfekten melden, nicht wahr? Ich stehe kurz vor dem Rauswurf?«
    »Sie sollten sich bei ihm melden, denke ich, ja.«
    »Das werde ich tun. Ich will nur …«
    Dupin sprach den Satz nicht zu Ende. Er verharrte einen Augenblick ganz regungslos.
    »So ein Scheiß.«
    Er fasste sich an die Stirn und fuhr sich mehrere Male durch die Haare. Es war ihm eingefallen. Es war ihm eingefallen, was ihm seit

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