Bretonische Verhältnisse
Auto.
Nolwenns Beschreibung war exakt. Fünf Minuten später bog er in den letzten Weg ab, der wirklich nur noch ein Feldweg war, und ließ den Wagen stehen. Langsam ging er den Weg entlang. Auch hier war es malerisch. Sanfte Hügel, Felder, Wiesen, kleine Wäldchen. Man konnte sie sehen – die Landschaften Gauguins, Lavals, Bernards. Man befand sich mitten in ihnen. Nur sehr wenig hatte sich hier in den letzten hundert Jahren verändert. Es war erstaunlich, fand Dupin, wie realistisch die Bilder plötzlich wirkten, wenn man hier war. Sie waren genauer als jede Fotografie.
Der Schuppen war zu seiner Überraschung kein Schuppen, sondern eine stattliche alte Scheune, Dupin hatte etwas ganz anderes erwartet, etwas Kleineres. Die Mauern waren aus Stein, bestimmt fünfzehn Meter in der Länge, allerdings in keinem guten Zustand. Auch das Dach aus Naturschiefer hing bedenklich durch und war vollkommen vermoost.
Auf der Seite Richtung Aven lag das mächtige, oben abgerundete Holztor, Fenster gab es keine.
Dupin hatte keine Mühe, das Tor ließ sich erstaunlich leicht öffnen, es musste in letzter Zeit benutzt worden sein. Ein riesengroßer, imposanter Raum tat sich auf, noch viel größer als er von außen wirkte. Der Boden war Erde. Er trat ein. Durch ein Loch im Dach, das Dupin von außen nicht gesehen hatte, fiel ein schmaler Lichtkegel. Es war vollkommen still. Es roch muffig. Dupin fuhr zusammen. Sein Telefon schrillte. Er sah Riwals Nummer.
»Ja?«
»Madame Cassel ist am Hotel angekommen. Wohin sollen wir fahren? Und Kadeg will mit Ihnen reden, wegen Beauvois. Ich habe auch schon mit Reglas telefoniert, er war sehr ungehalten, nicht über den Fortgang der Untersuchungen informiert worden zu sein und aus der Zeitung …«
»Ich rufe zurück.«
Dupin legte auf. Jetzt nicht. Er wartete bis sich seine Augen ganz an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann durchquerte er den Raum zwei Mal. Die Scheune war vollkommen leer. Nichts. Es war seltsam, aber hier war wirklich nichts. Gar nichts. Und es schien, als hätte hier schon viele, viele Jahre nichts mehr gestanden. Der Boden zeigte keinerlei Spuren.
Dupin war sich ziemlich sicher gewesen – aber er hatte sich getäuscht. Zumindest mit seiner ersten Vermutung, wo sich das Bild befinden könnte. Vielleicht hatte er sich in allem getäuscht.
Er ging zum Tor, trat hinaus, und lief einmal außen um die Scheune herum. Auch hier war nichts Auffälliges zu sehen.
Nicht das Geringste. Er schloss das Tor und fingerte nach seinem Handy.
»Riwal – wir treffen uns in Le Pouldu, nicht in Port Manech. Am Ortseingang. Sie werden vermutlich vor mir da sein.«
»Am Ortsschild, wenn man von Pont Aven kommt?«
»Genau.«
»Wann?«
Dupin musste über die kleinen Straßen nach Pont Aven, durch den Ort durch, über den Aven, durch das wuselige Riecsur-Belon, um den Belon herum, ein Stück nach Westen, wieder hinunter zum Meer. Eigentlich eine Stunde.
»Ich fahre jetzt los. Ich brauche eine halbe Stunde.«
Es war Viertel nach zwölf, als Dupin in Le Pouldu ankam, er hatte die Strecke in siebenundzwanzig Minuten geschafft, er hatte Riwals knallroten Renault schon von Weitem gesehen, er stand genau neben dem Ortsschild, so nah, dass es aussah, als habe er das Schild gerammt. »Le Pouldu«, darunter der keltische Name: »Poull du«, schwarzes Meer. Und in ebenso großer Schrift: Der Weg der Maler. Das war der Marketing-Spruch geworden, für den man, Dupin erinnerte sich genau, über eineinhalb Jahre einen Wettbewerb ausgeschrieben hatte; die Bretagne hatte beschlossen, mit breiterer Brust auf ihr künstlerisches Erbe hinzuweisen – da nun aber sehr viele Maler in der Bretagne an sehr vielen Orten gewesen waren, war das Schild jetzt folglich sehr viel zu sehen.
Nolwenn hatte ihm für Le Pouldu eine ebenso präzise Beschreibung durchgegeben wie für Port Manech, nur hatte er sie sich beim Fahren nicht aufschreiben können. Er fuhr langsam an Riwal vorbei und nickte ihm zu, neben ihm Madame Cassel. Riwal startete den Motor und fuhr dicht hinter Dupin her.
Die erste Abzweigung hinter dem Ortseingang rechts, immer in Richtung der ausgeschilderten sogenannten »Buvette de la Plage«, die seit Kurzem ein Museum war. Gauguin hatte hier mit seinen Freunden Meyer de Haan, Sérusier und Filiger für ein paar Monate zusammengelebt und gemalt. Das Haus hatte ebenso Marie-Jeanne Pennec gehört, sie hatte es aber noch zu ihren Lebzeiten verkauft, nachdem die Maler die Gegend nach und nach
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