Brezeltango
Papier wie Weintrauben in einem Bottich? Allerdings kam er ursprünglich von der Alb. Soweit ich wusste, war es dort für Wein zu rau.
»Guten Morgen, Herr Tellerle, alles in Ordnung?«, fragte ich zögernd. Möglicherweise war das ein Rückfall in die Kindheit und er benötigte therapeutische Hilfe?
»Also om drei viertel elfe isch dr Morga scho faschd vorbei. Ond en Ordnong isch gar nix, Frau Praetorius«, keuchte Herr Tellerle. »Manche Leit kabiered oifach net, dass mr Babier zammafalda muss, damid’s en Tonne bassd. Ond a Päckle muss mr hald ausnandrmacha, en Gotts Nama, noo gohd au mee nei en die Tonn. Ha, des isch doch net zviel verlangd, oder?« Herr Tellerle stampfte wütend weiter.
Der Anblick allein genügte, um mich wieder müde zu machen.
»Soll ich vielleicht noch einen Moment warten, bis Sie fertig gestampft haben, und Ihnen aus der Tonne heraushelfen?«, fragte ich unsicher. Herr Tellerle und ich hatten, um es vorsichtig auszudrücken, ein eher distanziertes Verhältnis und ich konnte nicht einschätzen, ob er meine Hilfe annehmen würde. Andererseits wollte ich nicht, dass er sich beim Herausklettern aus der Tonne den Fuß brach, weil der Klappstuhl das tat, was sein eigentlicher Job war: zusammenklappen.
Herr Tellerle schüttelte den Kopf und stampfte weiter. »I mach weidr, au wenn mir scho d’ Fieß 1 wehdeen. ’s isch no net gnug Blatz en dr Tonn.«
Ich zuckte die Schultern und wandte mich zum Gehen. Die Müllmänner würden beim Leeren der Tonne ihre helle Freude an dem festgestampften Papier haben. Es kostete mich große Anstrengung, mich nicht mehr nach dem wild stampfenden Herrn Tellerle umzudrehen, besonders, als er mir hinterherbrüllte: »Sie kennad doch net oifach Ihr Rädle schdanda lassa, wenn Sie nemme hier wohnad!«
Es war viel zu heiß zum Radfahren. Schon jetzt staute sich die schwüle Luft im Kessel. Im Hochsommer erinnerte mich Stuttgart immer an den Dampfkochtopf, der mir beinahe mal um die Ohren geflogen war, weil ich vergessen hatte, vor dem Öffnen den Dampf abzulassen. Genauso entlud sich die aufgeheizte Luft regelmäßig in krachenden Gewittern. In den Stadtteilen ohne Frischluftschneisen, zu denen der Westen und der Osten gehörten, kühlte die Luft nachts kaum ab. War heute nicht der erste September? Hoffentlich bekamen wir bald trockeneres Herbstwetter.
Ich nahm die S-Bahn zur Stadtmitte, stieg in den Vierer um und am Ostendplatz wieder aus. Eigentlich war die Gegend um den Ostendplatz nicht besonders schön, auch wenn das Ambiente seit der Verlegung der U-Bahn-Haltestelle etwas ansprechender geworden war. Aber sobald ich in die Landhausstraße Richtung Teckplatz einbog, hatte ich das Gefühl, in die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts zurückversetzt zu werden. Statt Asphalt gab es hier Pflastersteine, kaum Verkehr und freundliche Backsteinhäuser, die mich mit ihren Giebeln, Erkern und Verzierungen jedes Mal persönlich willkommen zu heißen schienen. Den Teckplatz hatte man vor einigen Jahren nach dem Mäzen, der die Siedlung in Zeiten großer Wohnungsnot für arme Familien gebaut hatte, in Eduard-Pfeiffer-Platz umbenannt, aber selbst der »Friseur am Teckplatz« hatte seinen Namen behalten.
Lila, die sehr sozial eingestellt war, war stolz darauf, in der ehemaligen Arbeitersiedlung zu wohnen. Ihr Häuschen mit seinem kleinen Türmchen und den efeuumrankten Fenstern in der Neuffenstraße war das putzigste von allen. Irgendwann würde es sowieso ein Ende haben mit der Idylle, weil ich dann mit Leon zusammenziehen würde. Nicht dass wir schon darüber gesprochen hätten, dafür war es wohl noch etwas früh, aber ich stellte mir eine große Altbauwohnung mit Balkon nach hinten raus im Stuttgarter Westen vor, ohne Kehrwochentyrannei natürlich, und deutlich ruhiger als die Reinsburgstraße, wo Leon jetzt wohnte. Vielleicht fanden wir ja etwas in der Nähe vom Bismarckplatz? Unrenoviert, vermutlich, aber das war ja für Leon kein Problem. Dorle würde uns aus ihrem Bauerngärtchen Löwenmäulchen-Ableger schenken, Leon würde den Balkon bepflanzen und an lauen Sommerabenden würden wir draußen sitzen und mit Lila Chianti aus Korbflaschen trinken. Herrlich! Vielleicht schon nächsten Sommer?
Aus dem Briefkasten quoll mir neben der von Lila abonnierten Zeitschrift
Die Sozialpädagogin
ein bunter Haufen Werbeprospekte entgegen, obwohl auf dem Briefkastendeckel ein Robin-Wood-Aufkleber mit dem Text »Bitte keine Werbung« prangte. Praktischerweise war ein Flyer
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