Brian Lumleys Necroscope: Buch 2 - Vampirbrut (German Edition)
dies zu vermeiden? Obwohl er wusste, dass es unvermeidbar war, würde er sich dagegen stemmen. Und das würde seine ohnehin schon eigentümliche Existenz noch weiter komplizieren.
Der einzige kurze Ausblick, den er sich gestatten wollte, sollte dazu dienen festzustellen, ob er überhaupt eine Zukunft hatte. Und das war eine sehr einfache Übung für Harry Keogh.
Immer noch gegen den Sog seines Sohnes ankämpfend, fand er ein Tor in die Zukunft, öffnete es und blickte in die sich endlos dehnende Weite hinaus.
Vor der sich auf subtile Weise ständig verändernden Dunkelheit der vierten Dimension erstreckten sich die Myriaden von neonblauen menschlichen Lebenslinien in einen saphirfarbenen Dunst hinein. Diese Linien definierten die Dauer der bereits existierenden und zukünftigen Leben. Harrys Lebenslinie zog sich von seinem körperlosen Geist bis in eine anscheinend unendliche Weite. Aber er sah, dass sie gleich hinter dem Möbius-Tor die Richtung änderte und dann parallel zu einer zweiten Linie verlief, wie die beiden Fahrbahnen einer Autobahn rechts und links vom Mittelstreifen. Er nahm an, dass die zweite Lebenslinie die seines Sohnes sei.
Er sprang von dem Tor weg und durchquerte die Zukunft, wobei er den parallel verlaufenden Lebenslinien folgte. Schneller als ihre Leben verliefen, flog er durch die Zukunft und beobachtete die blauen Linien. Er war traurig, als er sah, wie viele davon sich verdunkelten und abbrachen, denn er wusste, dass diese Menschen sterben würden. Andere wieder sah er mit hellem Glitzern zum Leben erwachen. Wie Sterne erschienen sie in der Dunkelheit und gebaren dann leuchtende Neonstrahlen. Das waren Geburten, neue Leben, die ständig entstanden. Und so flog er weiter vorwärts. Die Zeit wurde hinter ihm ganz kurz aufgewühlt wie das Kielwasser eines Schiffes, beruhigte sich jedoch sofort wieder.
Plötzlich spürte Harry, obwohl er ja keinen Körper besaß, einen eisigen Windstoß von der Seite her. Es musste sich um eine psychische Erscheinung handeln. Und tatsächlich, als er sich umblickte, erspähte er in geringer Entfernung eine Lebenslinie, die sich von den anderen abhob wie ein Hai in einem Schwarm von Thunfischen. Denn dieser Strang war rot – die Lebenslinie eines Vampirs!
Und sie krümmte sich ganz offensichtlich auf die seine und die seines Sohnes zu! Angst stieg in Harry auf. Die rote Lebenslinie trieb näher heran; jeden Moment musste sie seine und die seines Kindes berühren.
Dann bog die Lebenslinie seines Sohnes mit einem Mal scharf zur Seite ab und verlief in einem wahren Ozean blauer Fasern weiter. Und seine eigene Linie folgte der seines Sohnes und bog ebenfalls scharf ab, wobei sie gerade noch dem Vorstoß des Vampirs entging. Das Ganze wirkte wie die Manöver von Rennwagen bei einem Autorennen. Aber Harrys Ausweichmanöver war blind und rein instinktiv erfolgt, und nun schien seine Lebenslinie wild und unkontrolliert durch die Dunkelheit der Zukunft zu rasen.
Und dann, einen Augenblick später, erlebte Harry das Unmögliche: einen Zusammenstoß! Eine andere blaue Lebenslinie, die bereits trübe erschien und sich aufzulösen begann, prallte aus dem Nichts heraus auf seine. Wie voneinander angezogen bogen sie sich aufeinander zu und vereinigten sich in einer blendenden Explosion, um danach als eine einzige Linie weiter zu verlaufen. Ganz kurz spürte Harry die Gegenwart – oder eher das schwache Echo der Gegenwart – eines anderen menschlichen Geistes in seinem eigenen. Dann war er verschwunden, und Harry war wieder allein in seinem Verstand.
Er hatte genug gesehen. Die Zukunft musste sich ohne seine Hilfe entwickeln. Er sah sich um, fand ein Tor und trat wieder ins Möbius-Kontinuum ein.
Sofort begann das Baby erneut, ihn zu sich heranzuziehen. Harry stemmte sich nicht dagegen, sondern ließ sich entspannt nach Hause treiben. Nach Hause in den Geist seines Sohnes in Hartlepool, den er an einem Samstagabend im frühen Herbst 1977 erreichte.
Er hatte vorgehabt, mit gewissen neuen Freunden in Rumänien zu sprechen, doch das musste warten.
Er wusste nicht recht, was er von seinem ›Zusammenstoß‹ mit der Zukunft einer anderen Person zu halten hatte. Aber in dem kurzen Augenblick, bevor das Leben dieser Person endete, hatte er geglaubt, das schwächer werdende Echo dieses Geistes erkannt zu haben!
Und das war das größte aller Rätsel.
ZWÖLFTES KAPITEL
Genua ist eine Stadt voller Kontraste, von der Armut der gepflasterten Gassen und schmierigen Bars im
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